„Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (15). Als Kind erforscht Émile seine Umwelt und die Natur. Er soll nichts theoretisch erfahren, sondern die Wissenschaften erfinden, wenn er sie braucht. „Anstatt das Kind an Bücher zu fesseln, beschäftige ich es in einer Werkstatt, wo seine Hände zum Nutzen des Geistes arbeiten; es wird Philosoph und glaubt, nur ein Arbeiter zu sein“ (104). Reden, Belehrungen, Bücher lehnt Rousseau ab. Ein Buch allerdings soll Émile doch lesen, denn „wenn man eine Situation erfinden könnte, wo alle natürlichen Bedürfnisse der Menschen sich in einer für den kindlichen Geist begreiflichen Weise darstellen und wo die Mittel, sie zu befriedigen, leicht erkennbar wären, so müsste man seine Einbildungskraft lebhaft damit beschäftigen“.
Das Buch, das diese Situation vorhält und das Rousseaus Erziehungskonzept erfüllt, ist „Robinson Crusoe“ (1719) von Daniel Defoe (1660– 1731). Handlung, Erfahrung und Erlebnis empfiehlt Rousseau auch Lehrern:
„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (Rousseau 1975, 80).
In der Aufklärung sollte zur Vernunft erzogen werden. Im Unterricht wird Wissen erworben, das Denken und die Ratio stehen im Mittelpunkt. Rousseau fügt neue Aspekte hinzu: Gefühle, Sinne und Sinnlichkeit, Erlebnisse und die eigene Erfahrung. So klingt seine Definition von Erziehung sehr romantisch. Erzogen ist jener Mensch, „der die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen vermag“ (15). Rousseau geht es um Erlebnisse:
„Nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigstens bis dahin gelebt hätte“ (16).
Diese Betonung der Gefühle und Emotionen, der Erlebnisse und Erfahrungen führt zum Appell eines handlungsorientierten Lernens: „Empfindungen sind die ersten Bausteine seiner Erkenntnisse. ... Das Kind will alles berühren, alles anfassen. Verhindert diese Unruhe nicht. ... Es lernt Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere, Leichtigkeit der Körper kennen und Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften beurteilen, indem es sie betrachtet, befühlt, belauscht“ (41).
Merksatz
Rousseau entdeckte die Lebensphase Kindheit. Erlebnisse und Abenteuer in der Natur und die Auseinandersetzung mit ihr sind die treibende erzieherische Kraft. Das unmittelbare und aktive Lernen fördert in optimaler Weise das Kind. Damit hat Rousseau die Grundmauern zum erlebnis- und handlungsorientierten Lernen geschaffen.
Henry David Thoreau oder „Into the Wild“. Sean Penn (*1960) hat vor kurzem den Roman „Into the Wild“ (2007) von Jon Krakauer (*1954) verfilmt, der den tragischen Rückzug eines jungen Menschen in die Natur beschreibt. Sowohl Krakauer und Penn als auch der jugendliche Held dieses Filmes sind inspiriert von Thoreau.
Zwei seiner wichtigsten Bücher „Walden oder das Leben in den Wäldern“ (1854) und „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849) verbinden wie bei Rousseau eine pädagogische Praxis mit einer politischen Weltanschauung. Auf einer Seite befinden sich das Leiden am und der Widerstand gegen den ungerechten Staat auf der anderen die Natur als die große Erzieherin und Lehrmeisterin. Thoreau will ein Exempel statuieren und verlässt seine Heimatstadt Concorde am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Zweieinhalb Jahre bewohnt er seine selbst gebaute Hütte am Walden-See. Thoreau verbindet mit diesem Leben in der Wildnis mehrere Ziele. Er will erstens beweisen, dass Unabhängigkeit durch selbst gewählte Armut und einfaches Leben zu erreichen ist. Es braucht weder die kommunistische Utopie noch die kapitalistische Ideologie. Inspiriert von Ralph Waldo Emerson (1803–1882) stellt er sich zweitens auch grundlegende philosophische Fragen nach Freiheit und Fortschritt, dem Verhältnis des Menschen zur Natur, den eigentlichen Bedürfnissen des Menschen, nach Religion und Spiritualität. Drittens ist sein Walden-Aufenthalt auch ein ökonomisches Modell; zweieinhalb Jahre lebt er vom eigenen Anbau und vom Tauschhandel, in einer Welt ohne Geld. Viertens schließlich könnte man diese Zeit des Rückzugs auch als eine Wildnistherapie bezeichnen. Die Einsamkeit soll ihm helfen, den unerwarteten Tod seines Bruders zu verarbeiten. In fast mittelalterlichem Geist bereitet er sich selbst auf das Sterben vor, er will die „ars moriendi“ erlernen.
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen mußte, dass ich nicht gelebt hatte“ (Thoreau 1971, 184).
So wird er zum Zeitkritiker und weltlichen Einsiedler, zum Anarchisten, der den Staat ablehnt, zum Begründer der Idee des zivilen Ungehorsams und stellt für heutige Ökologen, Friedensbewegte und Aussteiger ein Vorbild dar. Seine einsame Hütte am Walden-See schützt ihn vor den Ablenkungen und der Hektik der Stadt. Weit entfernt von der Zivilisation kommt er seiner Wahrheit näher:
„Das meiste von dem, was man unter dem Namen Luxus zusammenfasst, und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechts“ (26).
Seine kritischen Fragen an den technischen Fortschritt sind heute noch aktuell: „Wir beeilen uns stark, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges zu besprechen“ (61).
Thoreau zeigt, dass man sein Leben fast von heute auf morgen ändern kann und nicht auf jene besseren Zeiten warten muss, die Kommunismus und Kapitalismus versprechen. Dabei ist sein Weg in die Natur und die Wälder immer auch ein Weg ins eigene Selbst. Er ist Romantiker, der sich vom Walden-See inspirieren lässt, und zugleich Wissenschaftler, der den Dingen auf den Grund geht: „Die Ufer sind die Lippen des Sees, auf welchen kein Bart wächst. Er leckt sie von Zeit zu Zeit ab“ (184). Und:
„Es ist merkwürdig, wie lange die Menschen an die bodenlose Tiefe eines Sees zu glauben pflegen, ohne sich die Mühe zu machen, ihn zu messen. ... Ich nahm die Tiefenmessung mühelos mit Bindfaden und einem ungefähr anderthalb Pfund schweren Stein vor, dabei konnte ich genau sagen, wann der Stein den Grund verließ, weil ich dann um so fester anziehen mußte, ehe das Wasser darunterfloß, mir zu helfen“ (280).
Das Streben nach Reichtum betrachtet Thoreau als eine Gesellschaftsneurose. Arbeit schafft Wohlstand, dann werden Bedürfnisse geweckt und der Konsum steigt – und dies in einer immer schnelleren Folge. Wer sich verschuldet, wird abhängig vom System. Dagegen postuliert Thoreau: „... die Lebensbedürfnisse der Seele kosten kein Geld“ (319).
In seinem pädagogischen Konzept finden sich viele Ähnlichkeiten zu Rousseau: „Jedes Kind fängt im gewissen Sinn die Welt von vorne an und ist am liebsten im Freien, selbst bei Nässe und Kälte“ (119). Wie im „Émile“ und wie bei „Robinson Crusoe“ sollen Jagd und Sammeln prägen: „Man kann nur den Jungen bemitleiden, der nie eine Flinte losschießen durfte; er ist darum nicht humaner, nein, seine Erziehung wurde schwer vernachläßigt“ (212). Aber auch im Spiel erfassen die Kinder die Wirklichkeit und erkennen naturwissenschaftliche Gesetze: „... die Kinder, die das Leben spielen, erfassen seine Gesetze und Beziehungen richtiger als die Erwachsenen, die nicht fertig bringen, es würdig zu leben, sich aber durch Erfahrung, d. h.: das Fehlschlagen ihrer Pläne, für weise halten“ (103).
Merksatz
Thoreau war ein Aussteiger, Pädagoge, Poet und letztlich auch ein Tiefenpsychologe des 19. Jahrhunderts, der allen unnötigen zivilisatorischen Ballast auf dem Weg zum Unbewussten, zur Erkenntnis und zum geglückten