Vielleicht kann man sagen, dass ein systemisches Vorgehen eher dem Jazz vergleichbar ist als der klassischen Musik: Es gibt einen Rahmen, der die Möglichkeiten begrenzt, doch gibt es keine »richtigen« Töne. Es geht nicht darum, sich einem verpflichtenden Klangbild anzupassen (Gierse 1997). Ähnlich äußert sich auch Schiepek, der von einer »Gesamtimprovisation des Prozesses« spricht, in dem melodische und rhythmische Versatzstücke als dynamische Komponenten einer umfassenden Prozessgestalt eingebaut werden (2004, S. 264f.). Die Kunst liegt eher darin, die Spannung zwischen Arrangement und Improvisation zu nutzen und darin, ein kreatives Feld zu schaffen. Dazu ist es gut zu wissen, welche Töne nicht passen – doch sogar diese können verwendet werden, wenn sie als Ausgangspunkt einer neuen Klangfolge genommen werden. In anderen (sollte man sagen »klassischen«?) Ansätzen von Therapie und Beratung geht es vielmehr darum, »den richtigen Ton zu treffen« und vielleicht macht das den Dialog der »Schulen« untereinander so schwierig. Der in diesem Abschnitt angesprochene Rahmen wäre in dem Bild dann das Akkordschema, das zu dem Stück gehört und der Rhythmus, der es strukturiert. Die Beratung selbst erfolgt dann im »freien Spiel« der Fragen und Hypothesen.
Dieser Rahmen lässt sich als Spannungsbogen zweier ganz unterschiedlicher Funktionen der Prozess(mit)steuerung beschreiben (siehe rechte Seite).
Hier geht es um die affektive Seite der Gestaltung des Rahmens; vielfach wird in dem Zusammenhang von »affektiver Rahmung« gesprochen (Welter-Enderlin / Hildenbrand 1996, 1998, Levold 1997). Durch alle Kanäle, nicht nur durch die Sprache, soll signalisiert werden, dass der Berater »beim anderen« ist. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Mikrosignale, durch die man als Gesprächspartner dem anderen »offene Tür« signalisiert (Mimik, Gestik usw.). All dies dient dazu, den Gesprächspartner einer stabilen emotionalen Basis zu versichern, Stabilitätsbedingungen herzustellen. Die Stabilität der Beziehung (sie wird Metastabilität oder Rahmung genannt, weil sie sich auf den Rahmen des Gesprächs bezieht) ermöglicht es dem Gegenüber, sich der Instabilität der Auseinandersetzung mit schmerzhaften und negativen Gefühlen zu stellen. Interessanterweise ist in jüngster Zeit der Begriff der Rahmung auch als spezifisches systemisches Leitungsverständnis ins Gespräch gebracht worden. So sprechen Wedekind und Georgi (2005) von »orientierender Rahmung« und verstehen Führung nach dem Abschied von der Vorstellung der Instruierbarkeit organisationaler Abläufe als Qualität der Bereitstellung kreativ entwickelbarer Gestaltungsräume.
Abb. 1: Prozess(mit)steuerung in systemischer Beratung
Metastabilität: Vermittlung von Sicherheit
Erzeugung von Instabilität
Auf der »sicheren Basis« der Beratungsbeziehung geht es im nächsten Schritt darum, eine Qualität von Spannung aufrechtzuerhalten, die es möglich macht, dass die Ratsuchenden sich tatsächlich an die kritischen Punkte in ihren Auseinandersetzungen heranwagen. Ein gutes Beratungsgespräch braucht sowohl Neugier und Interesse als auch Aufregung und Mut. Der amerikanische Gestalt-Familientherapeut Walter Kempler sagte einmal, Veränderung werde »im Feuer der Affekte« geschmiedet. Es ist also wesentlich, auf der Basis der stabilen Beziehung kritische Punkte anzuschneiden, mutig zu sein, durchaus auch provokative Fragen zu stellen und den Betroffenen zu helfen, sich mit Themen zu konfrontieren, die sie normalerweise vermeiden. Veränderungsrelevante Auseinandersetzungen sind mithin alles andere als ruhig und sachlich geführte Gespräche, denn es geht um affektiv hoch geladene Inhalte – umso wichtiger ist dabei das Bewusstsein, durch das Fundament des sicheren Rahmens getragen zu sein. (Dies ist der Kern der generischen Prinzipien s. Schiepek / Kröger / Eckert 2003).
Systemtheoretisch gesprochen, geht es an diesem Punkt darum, Fluktuationsverstärkungen zu realisieren (Schiepek 2004). In diesem Zusammenhang hat der Begriff der »Dekonstruktion« (White 1992) seine besondere Bedeutung: gerade durch »Querdenken« (Varga von Kibéd / Sparrer 2000), etwa durch das Umdrehen gewohnter Beschreibungen (z.B. die später vorgestellten Umdeutungen), durch ungewöhnliches Verhalten der Beraterin, durch Musterunterbrechungen, durch kleine Experimente wird versucht, die gewohnte Beschreibung der Wirklichkeit durcheinander zu bringen, um die Chance für neue Erfahrungen zu eröffnen. Die diesem Vorgehen zugrunde liegende Erkenntnis ist, dass die erwünschten hilfreichen Veränderungen als sich selbst organisierende Ordnungsübergänge stattfinden.
Wie Schiepek (ebd.) betont, ist es dabei sehr wichtig, den Kairos, den richtigen Zeitpunkt, zu beachten, denn die gleiche Intervention kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten sehr unterschiedliche Effekte zeitigen. Selbstorganisation bedeutet nicht »laufen lassen und das Beste hoffen«, sondern aktiv zu Prozessen beizusteuern, die die Wahrscheinlichkeit solcher Ordnungsübergänge erhöhen – ohne darüber die Kontrolle zu haben (Loth 2005, S. 31).
Das skizzierte Spannungsfeld kann übrigens gut als »Diagnostikum« in der Supervision gesehen werden: Ist die Beratung von beiden Aspekten gekennzeichnet? Nichts ist langweiliger als eine Beratung, in der immer wieder die Sicherheit betont wird (»Sie brauchen jetzt nicht zu antworten, wenn Ihnen das zu schwer fällt«, »Fühlen Sie sich auch ganz wohl?«). Und nichts wäre gefährlicher als die Konfrontation mit schmerzhaften Inhalten ohne affektive sichere Basis. Die Erzeugung von Instabilität ohne tragende Beziehung ist ethisch nicht vertretbar.
1.2 Auftragsorientierung – Kundenorientierung
Zum Fundament der Beratung gehört es, sehr genau und sensibel zu sein für das Auftragsgeflecht, in das man sich hineinbegibt (von Schlippe / Schweitzer 1996, S. 148ff.). Je größer und je formaler eine Organisation, desto anspruchsvoller und bedeutsamer wird eine sorgfältige Klärung des Beratungsauftrages: »Wer – will was – von wem – wann – in welchem Umfang – zu welchem Ziel?« (Schweitzer 1995). Denn mit der Zahl der Beteiligten und deren funktionellen Differenzierung (verschiedene Berufsgruppen, Hierarchien, Abteilungen, Arbeitsaufträge, evtl. Standorte) wird es unwahrscheinlicher, dass sich unter den Organisationsmitgliedern ein gemeinsam geteilter Beratungswunsch entwickelt. Es sind in der Regel einige Organisationsmitglieder, die eine Beratung anstreben, an der viele andere teilnehmen sollen. Eine besondere Rolle spielt die Frage danach, welche Auftraggeber sozusagen »verdeckt« mit im Raum sitzen, wer also ein besonderes Interesse an dem (positiven oder negativen) Verlauf der Beratung haben könnte (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1983). Wenn deren Erwartungen geklärt werden, ggf. durch ein gemeinsames Treffen, kann man sich u.U. viel Arbeit und Enttäuschung ersparen.
– Wer hatte ein besonderes Interesse daran, dass dieses Gespräch zustande kam? Was müssten wir tun, um ihn/sie zu enttäuschen / zufriedenzustellen?
– Wer hat die Beratung empfohlen, vielleicht Sie sogar hierher geschickt, zugewiesen? Was könnte es sein, was er/sie von uns erwartet?
– Wer hat ein größeres Interesse an diesem Gespräch: Sie oder der externe Auftraggeber? (auch möglich: Rangreihe der verschiedenen Beteiligten erstellen).
Der / die BeraterIn steht in gewisser Weise in der Mitte eines »Auftragskarussells« (von Schlippe 2009a). Abb. 2 skizziert am Beispiel eines Teamsupervisionsauftrages ein mögliches Geflecht: Bei den offenen Aufträgen, wie z.B. »die Teamkommunikation zu verbessern« – mag sich das Team durchaus einig zeigen. Doch können unter Umständen unausgesprochene Aufträge