Nach Porton besteht das Hauptanliegen des Midrasch, als eine von mehreren intellektuellen Auseinandersetzungen der Rabbinen mit der Schrift, darin, die enge Verbindung zwischen der rabbinischen Welt und der Welt der Tora darzulegen. Dazu kommt:
Die Rabbinen näherten sich der Tora mit all ihren intellektuellen und imaginativen Kräften an. Die Tora war ihr heiligstes Gut, und sie waren die Gestalter, Erhalter und Leiter dieser Kultur. Wenn die Tora auf das gesamte Leben einer Person Einfluss nimmt, dann sollten die Rabbinen fähig sein, sich ihr mit all ihrem Sein, mit ihren intellektuellen und rationalen Fähigkeiten wie auch mit ihrer imaginativen und spielerischen Seite anzunähern. Nur Midrasch legt Zeugnis von den gesamten intellektuellen Möglichkeiten des Verstandes und der Vorstellungskraft der Rabbinen ab. Je vertrauter ein Gelehrter mit der Tora wurde, der ultimativen Quelle seiner Heiligkeit, umso mehr Autorität und Status erhielt er innerhalb der rabbinischen Klasse und letztlich unter der jüdischen Bevölkerung. Fähig zu sein, der schriftlichen Tora neue Bedeutungen zu entlocken, oder die Möglichkeit zu haben, ihre explizite und implizite Bedeutung zu erläutern, erhöhte einen Rabbi unter seinen Kollegen. Midraschische Befähigung bestätigte und unterstützte den Anspruch des Rabbis, ein Rabbi zu sein. Seine Fähigkeit, mit der heiligen schriftlichen Tora zu arbeiten, kennzeichnete ihn als heiligen Mann. (Definitions, S. 526–527)
In Anbetracht dieser Forschungsgeschichte und der Definitionsversuche empfiehlt es sich, zwischen Midrasch/Midraschim als Textsorte/Schrift/Dokument und Midrasch als hermeneutischem Verfahren und auch Genre zu unterscheiden und dabei die Trägergruppe im Auge zu behalten. Auf der Basis der eben dargelegten Definitionsversuche und grundlegenden Beobachtungen zum Midrasch ist die Frage „Was ist Midrasch?“ in der Folge ausführlicher zu beantworten.
|19|II. Was ist Midrasch?
1. Grundlegende Literatur
Gerlemann, Gillis/Ruprecht, Eberhard, „drš: fragen nach.“ ThWAT I (1984), S. 460–467.
Gruber, Mayer I., The Term Midrash in Tannaitic Literature. In: Ulmer, Rivka (Hg.), Discussing Cultural Influences. Text, Context and Non-Text in Rabbinic Judaism. Lanham 2007, S. 41–58.
Lim, Timothy H., Origins and Emergence of Midrash in Relation to the Hebrew Bible. In: Encyclopedia of Midrash I, S. 595–612.
Maier, Johann, „dāraš; midrāš.“ ThWQ I (2011), Sp. 725–737.
Mandel, Paul, Legal Midrash between Hillel and Rabbi Akiva: Did 70 Make a Difference? In: Schwartz, Daniel/Weiss, Zeev (Hgg.), Was 70 CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple (Ancient Judaism and Early Christianity 78). Leiden – Boston 2012, S. 343–370; ders., „Darash Rabbi Peloni. A New Study.“ Dappim: Research in Literature 16–17 (2008), S. 27–54 [Hebr.]; ders., the Origins of Midrash in the Second Temple Period. In: Bakhos, Carol (Hg.), Current Trends in the Study of Midrash (JSJ Supplements 106). Leiden – Boston 2006, S. 9–34; ders., „Midrashic Exegesis and Its Precedents in the Dead Sea Scrolls.“ Dead Sea Discoveries 8 (2001), S. 149–168.
Stemberger, Günter, Zum Verständnis der Tora im rabbinischen Judentum. In: Zenger, Erich (Hg.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen (HBS 10). Freiburg 1996, S. 329–343; ders., Midrasch. Vom Umgang der Rabbinen mit der Bibel. Einführung – Texte – Erläuterungen. München 1989.
2. Der Referenzrahmen
Maʿase (Ereignis/Fallbericht) über R. Jochanan b. Beroqa und R. Leazar Chisma, die von Javne nach Lod kamen und vor R. Jehoschua in Peqiin die Aufwartung machten.
R. Jehoschua fragte sie: Was gab es heute Neues im Lehrhaus?Was gab es heute Neues im Lehrhaus?
Sie antworteten ihm: Wir sind deine Schüler und trinken dein Wasser (= lernen von dir).
Er sagte zu ihnen: Es ist unmöglich, dass es nicht Neues im Lehrhaus gibt. Wessen Sabbat war es (= wer war zum Auslegen eingeteilt)?
Sie antworteten ihm: Es war der des R. Leazar b. Azarja.
Er fragte sie: Was war die Haggada?
„Versammle die Männer und Frauen und Kinder“ (Dtn 31,12).
|20|Er fragte sie: Was hat er dazu ausgelegt (ma darasch ba)?
Sie antworteten ihm: So hat er ausgelegt (kach darasch ba): Die Männer kommen, um zu lernen, die Frauen kommen, um zu hören. Warum kommen die Kinder? Um denen Lohn zu geben, die sie bringen.
Dieser kurze Bericht aus der Tosefta (Sota 7.9) über einige bekannte Rabbinen enthält wichtige Informationen zum Begriff darasch und zum Midrasch.
1 Der Gegenstand der Auslegung ist ein Stück aus der Bibel,
2 vorgetragen in einem ganz bestimmten Ort und Kontext, in der Versammlung der Rabbinen im Lehrhaus.
3 Die Auslegung hat Neuigkeitswert, fördert also eine Information aus dem Bibeltext zutage, die nicht ohne weiteres schon selbstverständlich und jedermann einsichtig wäre.
Es lohnt, ausgehend von diesem kurzen Beispiel, einen Blick auf einige Voraussetzungen zu werfen, die für den Midrasch in seiner klassischen Form gelten. Man kann dies Referenzrahmen nennen. Im folgenden Abschnitt (II.3) wird zu zeigen sein, dass Midrasch nicht von Anfang an und grundsätzlich als Auslegung von Schrift verstanden werden kann, sondern mit der Verkündigung und Interpretation von vorhandenem Recht zu tun hat – mit oder ohne Bibelbezug. Der weitaus überwiegende und maßgebliche Teil des Midrasch basiert aber auf der Auslegung von Schrift. Dazu gehört einmal ein Bewusstsein von einem autoritativen TextBewusstsein von einem autoritativen Text der Bibel. Auch wenn im Detail die Frage der Zugehörigkeit gewisser Bücher zu einem anerkannten Kanon lange im Fluss sein mag, so setzt Midrasch ein Korpus religiös-autoritativer Schriften voraus.
Die zweite entscheidende Grundvoraussetzung für die Entwicklung des Midrasch sind Die Rabbinendie Rabbinen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Z., mehr noch aber der gescheiterte Aufstand unter Bar Kochba um 135 n.Z. stellten die Weichen für diese Bewegung, die das Judentum im Laufe der Zeit maßgeblich beeinflusst. Anfangs sicherlich eine Minderheit in der jüdischen Bevölkerung, setzt sich diese Gruppe aus unterschiedlichen Strömungen zusammen, deren gemeinsames Ziel es ist, jüdische Identität auf der Grundlage der Überlieferungen zu sichern. Die zentrale Basis der Bewegung ist das Lehrhaus, wo junge Männer in enger Beziehung zu ihren Lehrern an der Bibel und an den sich entwickelnden weiterführenden Lehren ausgebildet werden. Ein Geheimnis des langsam wachsenden Erfolgs der rabbinischen Bewegung ist sicherlich ihre Bereitschaft, unterschiedliche Aspekte jüdischen wie nichtjüdischen Lebens und Denkens zu integrieren und so zu verarbeiten, dass sie ein eigenständiges rabbinisches Gepräge erhalten. So nimmt man priesterlich-kultische Vorgänge auf, aber |21|auch messianisch-apokalyptische Strömungen, esoterisch-magische Elemente bei gleichzeitiger Distanzierung und Vorsicht vor politisch ungeschicktem Aktivismus oder religiösem Fanatismus. Vergleichbar den griechisch-römischen Rhetoren sind Rabbinen ausgebildete Experten für jüdisches Recht, aber nicht selten auch Wundertäter und Heiler, Astrologen und vieles mehr. Üblicherweise werden die rabbinischen Gelehrten auch nach Zeitepochen unterteilt:
Tannaiten von aram. teni bzw. hebr. schana = wiederholen, lehren, lernen | Amoräer von amar = sagen, kommentieren | Savoräer von savar = meinen | Geonim von gaon = erhaben |
Hillel und Schammai bis Jehuda ha-Nasi (Rabbi) |
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