Der Jesus der Geschichtehistorischer Jesus, Jesus der Geschichte, irdischer Jesus und der Christus des Glaubens treten bei dem Tübinger in einen Gegensatz, der sich nicht mehr vermitteln lässt. Auch die Religion bezieht sich nicht auf historische Fakten. Ihr Gegenstand ist die Idee des Christentums. StraußStrauß, David Friedrich versteht sie als ewige Einheit von Gott und Mensch. Diese Idee kommt in den Evangelien in FormForm (Philosophie) einer Geschichte, nämlich als ein menschlicher Lebenslauf zur Anschauung. Auch wenn die neutestamentlichen Erzählungen von der historischen Kritikhistorische Kritik aufgelöst werden, bleibt die WahrheitWahrheit der Idee bestehen. Sie und ihre Verwirklichung sind unabhängig von der Historie.
Literatur
Ferdinand Christian Baur: Die christliche GnosisGnosis, Gnostizismus oder die christliche ReligionReligionchristlichesphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835.
Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf die neueste Zeit, Tübingen 1838.
Fridrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982.
Peter C. Hodgson: The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966.
Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst und David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich, Gütersloh 1975.
David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36.
David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Tübingen 1840/41.
Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013.
[74]Aufgaben
1 Informieren Sie sich über Grundzüge der historischen TheologieTheologiehistorische.
2 Lesen Sie die Vorrede des ersten Bandes des Leben[s] Jesu von StraußStrauß, David Friedrich, und beschreiben Sie seinen theologischen Standpunkt.
3 Was kritisiert StraußStrauß, David Friedrich an der ChristologieChristologie von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst? Fassen Sie seine Argumente in Thesen zusammen.
d. Albrecht RitschlRitschl, Albrecht
Das Tübinger Programm einer wissenschaftlichen TheologieProgramm einer wissenschaftlichen Theologie zeitigt bei StraußStrauß, David Friedrich in der ChristologieChristologie Konsequenzen, an denen sich die theologische Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abarbeiten wird. Es bildet auch den problemgeschichtlichen Hintergrund der Theologie Albrecht RitschlsRitschl, Albrecht (1822–1889). Er und seine einflussreiche Schule dominieren den Diskurs am Ende des Jahrhunderts. Die theologischen Anfänge des in Göttingen lehrenden Theologen liegen in der Schule Ferdinand Christian Baurs. Dessen entwicklungsgeschichtlicheentwicklungsgeschichtlich Sicht der Entstehung der christlichen ReligionReligionchristliche teilte er zunächst. Davon zeugt seine 1849 verfasste Abhandlung Die Entstehung der altkatholischen Kirche. In der 1857 erschienenen zweiten Auflage dieser Schrift ging Ritschl allerdings auf Distanz zur Theologie seines Lehrers. Baurs Programm einer wissenschaftlichen Theologie sowie die zugrunde liegende Rezeption der Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich werden jetzt von ihm der Kritik unterzogen. In seinen späteren Hauptwerken aus den 1870er Jahren, Die christliche Lehre von der RechtfertigungRechtfertigung und VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk (3 Bde., 1870–1874, 3. Aufl. 1888/89) und Unterricht in der christlichen Religion (1875), hat Ritschl dann ein theologisches Programm vorgelegt, welches auf dem Gedanken der Offenbarung Gottes fußt, die strikt an die Gemeinde gebunden istOffenbarung Gottes und Gemeinde. Dem Gegensatz von Hegelscher Entwicklungslogik auf der einen Seite und OffenbarungstheologieTheologieOffenbarungs- auf der anderen liegt indes ein gemeinsames Interesse der beiden Antipoden zugrunde. Auch Ritschl geht es um das Programm einer wissenschaftlichen Theologie, und er ist zudem der Überzeugung, an die wahren Intentionen des Tübinger Theologen anzuknüpfen. Die Konstruktion der Theologie als Wissenschaft erfolgt allerdings signifikant anders als bei Baur und seinen Schülern.
[75]Der strikten Unterscheidung von Glaube und GeschichteGlaube und GeschichteGlaube und Geschichte setzt RitschlRitschl, Albrecht deren Verbindung entgegen. Dafür stehen der Begriff der Offenbarung sowie die Betonung des WundersWunder als notwendiger Bestandteil der Religion. Beide Begriffe zielen nicht auf eine Erneuerung eines vormodernen Religionsverständnisses. Der OffenbarungsbegriffOffenbarungsbegriff steht für den personalen Vollzug der Religion. Ritschl teilt nämlich die Überzeugung der Tübinger von der Realisierung der Idee. Aber gegen BaurBaur und dessen Hegelinterpretation betont er die individuelle Realisierung der Idee in der Geschichte. Deshalb verbindet er die Idee wieder mit der PersonPerson Jesus Christus. Dieser ist die Offenbarung Gottes in der Geschichte. Hinter der OffenbarungstheologieTheologieOffenbarungs- des Göttingers steht das Interesse an dem Einzelnen und Individuellen in der Geschichte. Als bloßes Durchgangsmoment in dem logischen Prozess der Entwicklung der Idee hin zu ihrer SelbsterfassungSelbsterfassung, wie in den Konzeptionen der Baur-Schule, erscheint es ihm unterbestimmt.
RitschlRitschl, Albrecht verbindet den GottesgedankenGottesgedanke mit seiner Realisierung in der Geschichte als Glaube. Das meint der Begriff des übernatürlichen und überweltlichen Reich GottesReich Gottes, Königsherrschaft GottesReiches Gottes. Es ist die Realisierung Gottes, und sie erfolgt durch die Gemeinde. Diese wiederum ist auf Jesus Christus bezogen. Als geschichtliche Offenbarung Gottes ist er Stifter der GemeindeGemeinde und als vollkommene Erkenntnis Gottes deren bleibender Bezugspunkt. Im Akt des Glaubens wird die Erkenntnis Gottes sowie die Bestimmung des Menschen zum Reich Gottes beim Einzelnen wirklich. Damit ist der GlaubensbegriffGlaubensbegriff die Grundlage von Ritschls Theologie. Die Dogmatik beschreibt den Glaubensvollzug und dessen Inhalte. In ihnen stellt sich der Glaube als ein geschichtliches Geschehen selbst dar.
In RitschlsRitschl, Albrecht Dogmatik, wie sie im Unterricht sowie im dritten Band von RechtfertigungRechtfertigung und Versöhnung ausgeführt ist, fungiert die Christologie als Bild des GlaubensChristologieChristologie als Bild des Glaubens von sich selbst. Der Glaube ist der personale Vollzug der Wahrheit Gottes in der Geschichte. Das Reich GottesReich Gottes, Königsherrschaft Gottes als ethisch bestimmter Endzweck Gottes und der Menschheit realisiert sich allein im individuellen Akt des Glaubens. Darin überwindet der Einzelne die Welt. Die Überwindung der Welt im Glauben erfolgt nun so, dass der Einzelne in die Allgemeinheit des Reiches Gottes aufgehoben wird. Das Handeln der Gemeinde ist durch die sittliche Allgemeinheit der (ethischen) Wahrheit Gottes bestimmt. Deshalb ist mit dem Reich-Gottes-[76]Gedanken Ritschls eine Kritik an der Individualität verbunden. Der personale Vollzug ist zwar ein notwendiger Bestandteil der Realisierung des Reiches Gottes, aber er wird zugleich durch das übernatürliche und überweltliche Reich Gottes negiert. Es verwirklicht sich in der Welt gegen sie.
Literatur
Albrecht RitschlRitschl, Albrecht: Unterricht in der christlichen ReligionReligionchristliche. Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875,