Am Ende des Schattens. Andreas Höll. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Höll
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115929
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Hörer, nur um zu erfahren, dass der Chef vom Dienst bereits zu einem anderen Termin aufgebrochen sei.

      Dolphin schaltete die Schreibtischlampe an, schaltete sie aus. Draußen fiel Schneeregen. Der Kippschalter ging ziemlich schwer. Welch lächerliche Kraft war nötig, um Licht in die Welt zu bringen. On, Off, er wiederholte das Spiel.

      Er schaute zur Uhr. In makelloser Parallelität waren die fünf Uhrzeiger auf vier Kontinenten um eine Minute vorgerückt. Wie wäre es, wenn er in den großen Berliner Zeitungen, eine Suchanzeige schalten würde? Aber las sie überhaupt jene Rubrik im hinteren Teil des Blatts, mit dem für die Deutschen so typisch bürokratischen Terminus Anschlussgesuche? Ihm würde fürs Erste die Nummer ihres Anschlusses genügen.

      Nach einer weiteren Stunde reichte es ihm. Er hatte das Gefühl, dass die Welt sich in einen Wartesaal verwandelt hatte. Die Schwimmerin war abgetaucht. Hugo von Ernst meldete sich nicht. Ebenso der Chef vom Dienst. Kein Zeichen, trotz mehrmaligen Nachfragens, vom Kaiser-Wilhelm-Institut. Offenbar war immer noch nicht klar, wann der Direktor zurückkehren würde.

      Kurz entschlossen fuhr er ins Romanische Café. Wenn die Welt schon einem Wartesaal glich, konnte man ebenso gut den verheißungsvollsten in Berlins Kulturwelt aufsuchen.

      Er bekam ein Tischchen in der Nähe der Kuchentheke zugewiesen, die von einer Säule im romanischen Stil flankiert wurde. Es wurmte ihn, dass er vom Kellner im Hauptraum platziert wurde, den die berühmten Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Regisseure oder Journalisten Bassin für Nichtschwimmer nannten. Hier drängelten sich Leute, die seit Jahrzehnten nicht müde wurden, tagtäglich auf das Talent zu warten, wie der Schriftsteller Erich Kästner bemerkt hatte. Seinesgleichen residierte im Nebenraum. Dolphins Prominentenradar hatte erst kürzlich auf engstem Raum Dix, Remarque und Fritz Lang geortet. Verstohlen schaute er in diesen Bezirk, wo die Arrivierten sich lässig zuprosteten. Die Ungezwungenheit ihres Auftretens, die Gleichzeitigkeit fremder Blicke und scheinbarer Selbstvergessenheit, das alles trug zum Eindruck einer Natürlichkeit bei, die unverstellter nicht sein konnte. Man bewegte sich, als sei man im eigenen Wohnzimmer, nur mit dem Unterschied, dass dieses im Bewusstsein der Protagonisten in die Kulissen eines Filmstudios verlegt worden war.

      Dolphin bestellte Kaffee und verlangte Ham and Eggs. Es verschaffte ihm Genugtuung, dass der blasierte Kellner ihn erst auf Nachfrage verstand.

      Er strich über die kühlen Adern des Marmortischs. Bäche, Flüsse, ganze Deltas verzweigten sich, die ins Meer, ins Tiefe, ins Offene führten. Dann blätterte er in seinem Notizheft, in dem er Material für sein Berlin-Buch sammelte. Es sollte einen großen Atem haben. Und so hatte er es sich angewöhnt, auch die Nebensächlichkeiten festzuhalten, die Stimmungen und Gefühlsfarben, die er zum Ausschmücken seiner Geschichte brauchte. Es war wie bei einem Detektiv, jedes Detail konnte sich im Nachhinein als wichtig erweisen.

      Schon lange war ihm klar: Wenn er den nächsten Schritt machen wollte, musste er etwas Größeres schaffen als die Artikel für den Standard. Er wollte nicht nur Zaungast am Bassin für Schwimmer sein.

      In seinem Heft notierte er: Berlin im November 1930. Dann überlegte er fieberhaft, welches Thema er wählen sollte. Das Treffen mit Röhm? Ihm fehlte die Lust dazu. Er müsste vielmehr über die Schwimmerin schreiben und den Abend bei Hugo von Ernst. Die Spekulanten, Offiziere, Politiker, Künstler. Das Bassin, in dem Kaviarfässchen schwammen. Ihr nasser Bubikopf. Alles hatte sich im Glanz der Spiegel und Lüster gedreht. Der Rausch hatte sie in sein Schlafzimmer getragen, wo er sich, wie aus dem Nichts, in eine Nüchternheit verwandelte, die der Ausleuchtung in einem Operationssaal glich. Dolphin sah sie vor sich, wie sie sich systematisch perforierte, als wolle sie sich für etwas durchlässig machen, das sie noch nicht kannte. Mit ihrem Blick hielt sie ihn fest, wie sie ihn, hoch oben auf dem Barhocker balancierend, hatte bannen wollen mit der Leica. Er wusste kaum noch, was sie gesprochen hatten, all die Stunden. Sie hatte ein Netz aus Worten um ihn gesponnen, die immer noch nachklangen. Er wusste nicht, wer sie war und wo sie wohnte, niemand schien sie zu kennen, bis auf diese Schweizer Geliebte, die sie ganz hatte für sich haben wollen.

      Dolphin klappte das Notizbuch zu, ohne eine Zeile geschrieben zu haben. Es war schwer, für solche Dinge eine Sprache zu finden. Er beschloss, zur Kuchentheke zu gehen, um sich ein Dessert auszuwählen. Über die Schlange davor war er nicht unglücklich, konnte man doch von hier aus einen Blick in den Nebenraum werfen.

      Dass Brecht da war, erstaunte ihn nicht. Er saugte an einer zeppelinhaften Zigarre, die er sich gerade von einem Kellner anzünden ließ. Nicht weit weg davon saß der Film- und Literaturkritiker Willy Haas und schrieb, begleitet vom gelegentlichen Nippen an einem Likör, in eine Kladde.

      Ein Gast, der, etwas abseits, an einem Marmortischchen Hof hielt, irritierte ihn. Es war ein breitschultriger Schwarzer in Nadelstreifenanzug. Er ließ gerade einen Stock aus Ebenholz so durch seine Finger gleiten, als gebe er mit dem silbernen Knauf den Takt an. Etwas von der Art eines Tambourmajors schwang mit, nur folgte er einem eigenen Rhythmus, der mit jenem der Märsche nichts gemein hatte. Er war umringt von einer Handvoll junger Frauen, die an seinen Lippen hingen, jederzeit bereit, in Gelächter auszubrechen, wenn die Lippen sich schürzten und das Signal für eine Pointe gaben. Er zog die Blicke auf sich und die Welt mit seinen Blicken an. Und als er sein Auge auf den Rücken des Obers warf, drehte der sich um, als sei er gerufen worden.

      Dolphin konnte sein Profil sehen. Jetzt war er sich sicher, dass es sich bei dem Herrn im Maßanzug um Louis Brody handeln musste. Ohne Turban und indisches Gewand war er kaum wiederzuerkennen. Er bezahlte, setzte einen samtweichen Fedora-Hut auf und ging zu Haas, worauf der Journalist aufstand, ihm lange die Hand schüttelte und mit einem Klaps auf die Schulter verabschiedete.

      Dolphin fuhr zurück ins Büro und versuchte, Ella zu erreichen. Niemand nahm ab. Er war erleichtert. Doch irgendwann würde er mit ihr reden müssen.

      Er schaltete die Schreibtischlampe ein. Ihm fehlte die Lust, die Einladungen durchzugehen, die sich zum Wochenende hin naturgemäß häuften. Sein Blick fiel auf die Mappe mit den Filmrezensionen, die seine Sekretärin herausgesucht hatte. Müde blätterte er in den Zeitungsausschnitten, die umso gelbstichiger wurden, je länger sie zwischen Aktendeckeln begraben lagen. Und siehe da, auf schlechtem, holzhaltigem Papier hatte ausgerechnet Willy Haas vor vielen Jahren eine Kritik über die Verfilmung von Schillers Verschwörung des Fiesco zu Genua verfasst:

       Eine der besten Leistungen, wahrscheinlich die stärksten überhaupt, war der Neger Musley Hassan des Lewis Brody: fleischig, verschlagen, bärenstark, mit der fast gutmütigen Ausgewitztheit des schillerschen Originals. An ihm, und vielleicht nur an ihm, ließe sich zeigen, wie viel von Schiller zum Film hinüberzuretten gewesen wäre – ungeheuer viel.

      Dolphin rieb sich die Augen. Ein Afrikaner als Retter der Klassik. Vielleicht sollte er ein Porträt über Brody schreiben. Lord Bakerfield, dessen war er sich sicher, wäre auf jeden Fall dagegen. Und ihn zu überzeugen, war im Moment jedenfalls vergebliche Liebesmüh.

      Eine Woche später meldete sich endlich das Kaiser-Wilhelm-Institut. Ob er gleich vorbeikommen könne, wollte die Vorzimmerdame wissen, Professor Fischer sei nur heute im Büro und dann wieder für mehrere Wochen verreist.

      Unverzüglich machte Dolphin sich auf den Weg. Als er aus dem Wagen stieg und sich dem Gebäude näherte, sah er einen Bronzekopf der Minerva, die, als Hüterin der Weisheit, den Eingang mit undurchschaubarer Miene bewachte. Er trat ein und wurde von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen, die ihn in den Ostflügel geleitete. Als sie schließlich die Tür öffnete, saß Professor Eugen Fischer gerade am Schreibtisch vor einer Unterschriftenmappe. Ohne den Kopf zur Seite zu wenden, signierte er mit schwungvoller Geste und präsentierte dabei sein Profil, das in gezackten Schwüngen Nase und Spitzbart verband. Das schräg einfallende Licht arbeitete plastisch seine Denkerstirn heraus, die Wimpern senkten sich wie Schirme. Er ließ sich Zeit. Dann stand er endlich auf und hieß den Gast willkommen.

      Nachdem er Kaffee und Cognac hatte servieren lassen, sah er, begleitet von allerlei Geplauder, die Zeit gekommen, grundsätzlicher über sein Metier zu sprechen. Er bezeichne sich zwar als Anthropologe,