Brock nickte. „Ich weiß, wo das ist.“
„Er bat mich, im Wagen zu warten, was ich auch tat. Er verschwand im Lager und kam nach einer Weile wieder, wobei er zwei schwere Taschen trug, die er in den Kofferraum legte. Als wir wegfuhren, bemerkte ich, dass uns ein anderes Auto folgte. Ich glaube, das war mein Cousin Tim. Ich habe Markus darauf hingewiesen, und er hat ihn nach kurzer Zeit abgehängt. Markus kennt sich nämlich im Hafengebiet hervorragend aus. Ich fand es spannend, wie er gefahren ist.“
„Was geschah dann?“
„Markus schien sehr wütend zu sein. Er hat ein paar Mal mit der Faust aufs Lenkrad gehämmert und über verdammte Idioten geflucht. Ich wusste nicht, wen er meinte. Er hat mir nichts gesagt.“
„Wohin seid ihr dann gefahren?“
„Nachdem das andere Auto abgehängt war, sind wir zu einem kleineren Hafenbecken gefahren, in dem nicht viel Betrieb war. Die meisten Schiffe versuchen, am Freitag abzulegen, damit sie nicht übers Wochenende die teuren Liegegebühren bezahlen müssen.“
„Das ist mir schon klar. Was habt ihr dort gemacht?“
„Markus parkte dicht an der Kaimauer. Dann bat er mich, ihm zu helfen, die schweren Taschen aus dem Kofferraum zu holen. Anschließend musste ich mich wieder in den Wagen setzen. Ich sah, wie er ein Päckchen nach dem anderen aus den Taschen holte, mit einem Taschenmesser die Verpackung aufschnitt und den Inhalt ins Wasser rieseln ließ. Weil ein leichter Wind wehte, gab es einige weiße Staubwölkchen, und ich hörte ihn wieder laut fluchen. Als er fertig war, warf er die Taschen in den Kofferraum, und wir fuhren nach Hause. Ich habe ihn gefragt, was er da gemacht hat, aber er hat mich nur merkwürdig angesehen und gesagt, dass ich niemandem davon erzählen dürfte.“
Brock hatte wie gebannt zugehört. Daniels Beichte erklärte einige Lücken ihrer Ermittlungen, und jetzt war das Motiv für die Ermordung von Markus Holler klar. Es war die ganze Zeit nur um Drogen gegangen!
„Was ist am Freitag noch passiert?“
„Nachdem Markus mich hergebracht hatte, hat er sich ein Taxi bestellt und ist wieder weggefahren. Er hat mir nicht gesagt, wohin er wollte.“
„Nun, das wissen wir. War sonst noch etwas?“
„Mein Vater kam später, und wir haben zu Abend gegessen. Ich habe meinen Teller auf mein Zimmer genommen, wie ich es meistens mache. Mehr weiß ich nicht.“
Brock stand auf und ging zur Tür. „Du hast uns sehr geholfen.“
„Da ist noch etwas“, sagte Daniel plötzlich. „Spät in der Nacht, ich war schon eingeschlafen, und es war völlig ruhig im Haus, hat ein Telefon geklingelt. Es war sehr leise, aber ich kenne den Klingelton. Es war das Telefon von Tim, meinem Cousin. Etwas später habe ich gehört, wie er das Haus verließ. Ich bin dann eingeschlafen und habe bis zum Morgen nichts mehr mitgekriegt.“
Brocks Augen wurden schmal. „Danke, Daniel. Das war sehr interessant für mich.“
*
Anton Holler, korrekt gekleidet wie immer, saß in seinem Kontor und ließ seinen Blick über die nun schon fast antike Einrichtung gleiten. Die halbhoch getäfelten Wände waren im Laufe der Zeit stark nachgedunkelt. Darüber hingen Aquarelle, Zeichnungen und Fotos der Schiffe, die der Reederei gehört hatten. Die meisten davon gab es schon lange nicht mehr.
Er strich mit der Hand über die leicht zerkratzte Platte seines Schreibtisches. Daran hatte bereits sein Vater gesessen, und davor sein Großvater. Die Schreibtischlampe stammte von der Firma Tiffany aus der Zeit des Jugendstils. Er wusste, dass sie heutzutage bei einer Auktion eine Menge Geld einbringen würde, aber er hatte nicht die Absicht, sie gegen eine moderne Lampe einzutauschen.
Die Telefonanlage war neu. Anton Holler war sparsam, aber nicht geizig. Seiner Ansicht nach bezahlte er seine Mitarbeiter überdurchschnittlich gut, und er war sicher, dass sie ebenso gut für ihn arbeiteten.
Es war ihm zwar zu Ohren gekommen, dass in seinem Lager im Hafen manchmal Geschäfte abgewickelt wurden, die dort nicht hingehörten. Es gab aber bei den Büchern keine Unregelmäßigkeiten. Er hatte mehrmals externe Prüfer beauftragt, doch nach ihren Erkenntnissen war alles korrekt. Wenn dort also etwas lief, hatte es mit der Reederei nichts zu tun.
Sein Neffe Tim hatte im Lagerhaus die Aufsicht. Er vertraute ihm. Er gehörte schließlich zur Familie.
Andererseits – als Nachfolger konnte er ihn sich auch nicht recht vorstellen. Ihm fehlte das Format von Markus. Die Trauer überwältigte ihn, und Anton Holler brauchte einige Minuten, bis er sich wieder gesammelt hatte.
Wer sollte das Geschäft übernehmen, wenn Tim dafür nicht geeignet war?
Daniel? Er lachte kurz auf. Dann könnte er gleich Konkurs anmelden.
Blieb nur noch Maria, seine Tochter. Ihr Mann – sein Schwiegersohn Kurt Berghoff – hatte seine Qualitäten. Er war ein guter Anwalt. Doch besaß er auch die Qualifikation zur Leitung eines Unternehmens?
Anton Holler seufzte. Irgendwann musste er sich für eine Lösung entschließen. Einen Geschäftsführer von außen holen? Diese Vorstellung bereitete ihm großes Unbehagen.
Nun, er musste diese Entscheidung noch nicht heute treffen. Dennoch, die Unsicherheit über das Schicksal der Reederei ließ sich nicht aus seinen Gedanken verdrängen.
*
Sie saßen in einem kleinen fensterlosen Raum, der normalerweise für Verhöre genutzt wurde. Den schönen Konferenzraum mit den ledergepolsterten Stühlen hatte Birgit Kollmann belegt. Vermutlich beeindruckte sie in diesem Moment die höheren Gehaltsklassen mit einer ihrer PowerPoint-Präsentationen.
Kommissaranwärter Horst Spengler hatte die fahrbare Wand mit den Fotos und Notizen ihrer Mordfälle hereingerollt. Jeder hatte einen Laptop vor sich stehen, der mit einem Kabel an das interne Netzwerk angeschlossen war. So konnte jeder das Gleiche auf dem kleinen Bildschirm sehen.
Hauptkommissar Cornelius Brock saß am Kopfende des kleinen Tisches. Außer seinem Assistenten befanden sich Kommissar Höhne von der IT-Abteilung und Kommissar Ritter von der Spurensicherung im Raum. Brock kannte Ritter sehr gut, und sie verstanden sich prächtig. Sie waren beide alte Hasen und hatten etwa zur gleichen Zeit ihre Karrieren bei der Polizei begonnen.
Sie waren hier, um eine Zwischenbilanz zu ziehen.
„Fangen wir mit dem an, was wir wissen“, begann Brock.
Bevor jemand etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür, und die Erste Hauptkommissarin Birgit Kollmann spazierte herein, unter dem Arm einen Aktendeckel, den sie vor sich auf den Tisch legte. Im Raum wurde es gleich viel enger.
„Ich komme gerade aus einer Sitzung“, erklärte sie ohne jede Begrüßung, „und musste mir anhören, dass im Mordfall Holler offensichtlich immer noch kein Verdächtiger feststeht. Die hohen Herren erwarten Ergebnisse!“
„Wir haben durchaus Verdächtige“, entgegnete Brock. „Leider fehlt es an den nötigen Beweisen.“
PPK schien interessiert und setzte sich. „Lassen Sie hören!“
Jeder trug vor, was es bisher an Erkenntnissen gab, und Frau Hauptkommissarin gab sich beeindruckt.
Ein strafender Blick traf Brock. „Davon hast du mir nicht mal die Hälfte erzählt, Conny. Wenn ich die Einzelheiten gewusst hätte, wären meine Vorgesetzten wesentlich zufriedener gewesen.“
Brock ging nicht auf die Kurzform seines Vornamens ein, die er ungern hörte, doch Birgit Kollmann war wohl nicht mehr dazu zu bewegen, diese Unart zu ändern.
„Ich habe dir nur erzählt,