»Was wäre ich für ein Anführer, wenn mich nicht nach mehr dürstete?«, fragte Gondas, und damit war alles entschieden.
Damit auch Selija zu wollen lernte, ließ sie Gondas zu den Wagen gehen, die die Soldaten selbst für alle Fälle abwechselnd bewachten, und sich nach Belieben zu bedienen. Gondas hatte Recht, er war nicht umsonst der Anführer, ohne Grips wird man nicht zum Besten. Zuerst nahm Selija ein paar von den allergrößten Stücken zur Hand: »Aber die kannst du dir nicht um den Hals hängen, und zum Zerteilen sind sie zu schade«, meinte Gondas. Worum es Gondas schade war, darum war auch ihr schade. So gebot es die Pflicht der Ehefrau.
›Vielleicht sollte ich ja, wenn Gondas weg ist, wieder bei der Alten mit den Wolfsbissen an einem Bein vorbeischauen, vielleicht würde sie ja etwas für Glesum zusammenbrauen, damit alles ruhig und schmerzlos vorbei wäre?‹ Später, jetzt war der Bernstein an der Reihe.
Und dann sah Selija das, was sie brauchte. Ein kleines Stück Bernstein, weiß wie Milch, auf dem Wagenboden, gut, dass sie tiefer gegraben hatte. Selija drückte ihn fest in ihrer Hand, den Tropfen, so voller Leben, die allerliebste Milch, am Rand entlang ein feiner Streifen, rot wie geronnenes Blut. Selija würde zu Handwerksmeistern gehen, sich nicht bei ihnen anstellen, das musste sie nicht, die anderen mussten warten, sie würde zu ihnen gehen und sie bitten, einen Anhänger für sie zu fertigen, mit feinen Ketten, damit sie ihn immer um den Hals tragen konnte als Zeichen – sollen die Menschen und Götter nur sehen, wer hier das Sagen hat.
II.
BETA URSAE MINORIS
oder
KOCHAB
IM KLEINEN BÄREN
Kochab (arabisch: al kaukab »Stern«) ist ein orangeroter Riese von etwas geringerer Helligkeit als der Polarstern. Der zweithellste Stern im Kleinen Bären belegt den 49. Platz auf der Helligkeitsskala der Sterne und war im ersten Jahrhundert dem nördlichen Himmelspol am nächsten. Bis heute bleibt unklar, welchen Stern im Kleinen Bären die alten Balten als Polarstern ansahen: Alpha (den heutigen Polarstern) oder Beta (Kochab). Für andere Völker wie die alten Araber war Kochab der Polarstern. Er leuchtet 450-mal heller als die Sonne und ist 42-mal größer als sie. Seine Entfernung zur Erde beträgt etwa 130 Lichtjahre. Sein Alter wird auf etwa 2,95 Milliarden Jahre geschätzt.
8. Nebel
Einige Wochen nach dem Fest der Frauen kam für die Männer die Zeit, in der Krieger und Händler nicht auf Reisen waren, sie blieben zu Hause, weil Jünglinge ihres Stammes das Alter erreicht hatten, in dem sie zu Kriegerfürsten werden sollten, und das Fest ihrer Initiation anstand. In diesem Jahr war die Reihe an Bentis, dem Sohn des obersten Stammesführers, deshalb bereiteten sich alle auf eine besonders feierliche Zeremonie vor, säuberten den Heiligen Hain, schnitten das Gras und lichteten den Jungwald, luden die Stammesführer ein, um zu schauen, was für eine Feier das würde, mit was für Reichtümern und Macht.
Auch die Frauen gingen hin und beobachteten, wie ihre Söhne zu Männern wurden, denn dazu waren sie von Geburt an bestimmt gewesen.
An jenem Morgen putzte sich Selija noch viel schöner als sonst heraus, hängte sich so viel Schmuck um, wie nur Platz war; die Sonne schien wohltuend, sie wusste, was für ein Tag heute war, also zeigte sie sich nicht störrisch und versteckte sich nicht hinter den Wolken.
Sie musste Bentis bereitmachen, Gondas hatte es schon angeordnet, die Männer warteten. Aber nichts lief nach Plan, die merkwürdigsten Dinge geschahen. Bentis saß auf seinem Bett und weigerte sich, es zu verlassen, die Augen standen hervor, die Pupillen waren geweitet, er sprach bald mit sich selbst, bald mit wer weiß wem, mit Wesen, die kein anderer sah, den Lebenden gab er keine Antwort, als wären sie gar nicht da. Er rupfte und zupfte an seinen Kleidern, als wären sie voller Pferdehaar, doch das waren sie nicht. Manchmal schrie er, als wäre er außer sich, rief laut, dass Käfer über die Wände krabbelten, doch wo sollten die in einer so sauberen Hütte herkommen? Alle sahen sich um, versuchten die nicht vorhandenen Uferfeuchtkäfer, Schnellkäfer und Waldmaikäfer totzuschlagen, aber was hätten sie denn totschlagen sollen, wenn da nichts war?!
Alle waren so mit der Käfersuche beschäftigt, dass sie gar nicht sahen, wie Bentis sich auszog, nackt über die Felder lief und dabei wer weiß was herumschrie, während seine leicht angeschwollene Männlichkeit, die er nicht nur nicht verbarg, sondern ganz offen zur Schau stellte, hin und her baumelte. Das war schon für einen einfachen Mann eine unerhörte Schamlosigkeit, ganz zu schweigen vom Sohn des Anführers. Gondas schickte gleich mehrere seiner Männer aus, um ihn einzufangen, sie wurden Bentis schon nach kurzer Zeit habhaft, fesselten ihn mit Stricken und bedeckten ihn ein wenig, auch wenn der sich nach Kräften wehrte, sich schreiend hin und her wand und sogar zu beißen versuchte. Sie schleppten ihn nach Hause, schlossen ihn ein, verbarrikadierten die Tür, einige der Männer blieben als Wache zurück.
Fast drei Tage brachte Bentis in diesem Wahn zu, erst dann schlief er ein. Wer nichts gesehen hatte, schwieg, und wer es gesehen hatte, machte den Mund nicht auf, denn Gondas war gut, aber wenn er in Wut geriet, konnte er einen eigenhändig mit dem Speer durchbohren, bevor man auch nur einen Mucks von sich gab, da kannte er kein Erbarmen.
Die Gäste gingen auseinander, beluden ihre Wagen mit Gondas’ Geschenken, schlugen sich die Bäuche voll und zechten, ohne sich groß zu wundern, Soldaten bekamen ja noch ganz anderes zu Gesicht. Der Sohn des Anführers, na und? Beim Sterben sind alle gleich.
»Gib ihm Wasser«, hieß die Alte mit den Wolfsbissen am Bein Selija.
Selija gab ihm immer mehr Wasser und hörte nicht auf damit, bis Bentis wirklich zur Ruhe kam und dann genas, danach war er wieder ganz der Alte.
9. Regen
Als sie sich um Bentis keine Sorgen mehr machen musste, bemerkte Selija, dass mit ihr selbst etwas nicht stimmte. Sie war schwanger. Vielleicht hatte sie ja zu wenig vom Gebräu der Alten getrunken, oder er hatte nicht gewirkt, oder vielleicht hatte die verfluchte Hexe ihn auch zu schwach zubereitet. Selija war schwanger, also musste sie es noch einmal versuchen.
Selija griff zum Tongefäß mit dem Tollkirschensud, den sie aus Vorsicht zur Seite gestellt hatte, jetzt würde sie ihn ganz austrinken, wer weiß, was dann kam, vielleicht würde sie vom Wahn heimgesucht über die Felder rennen, laut schreien und um sich schlagen, den Regen herbeirufen, was sonst hätte die Kraft, alles auszuwaschen, bis man sie einfing, fesselte und einsperrte, doch vielleicht wäre sie ja dann losgeworden, was sie nicht wollte.
Der Krug war leer. Bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken, so hatte es Selija es gewollt. Aber warum hatte das, was für das eine Kind bestimmt war, ein anderes getrunken?
10. Tränen
Ich bin gar nicht Glesum, mein Name ist Blindė. Ich wurde in einen anderen Stamm hineingeboren, der auch zu den Ästiern gehört, aber das weiß hier niemand und das ist gut so. Ich schweige, sage zu keinem ein Wort, damit niemand merkt, wie ähnlich einander unsere Sprachen sind. Wir wohnen noch weiter weg vom Meer, das weiß ich, denn auch unsere Männer fahren zuweilen an die Küste für Bernstein, aber nicht so oft wie Gondas – wir wohnen weiter weg, es ist nicht einfach für uns, die Küste zu erreichen und den anderen Händlern zuvorzukommen. Wir leben nicht schlecht, auch ohne Bernstein, bauen Weizen an und haben Vieh, dazu Bienen, die uns Honig und Wachs gaben, die tauschen wir gegen römisches Geld und andere Reichtümer ein, die die Bernsteinhändler von dort mitbringen, wir haben von allem genug, sogar mehr als genug.
So hätte ich denn dieses wunderbare Leben gern weitergeführt, aber ich war hässlich, sah anders aus als die anderen, braunes Haar, braune Augen, niemand wollte ein solches Mädchen, alle schubsten mich herum, aber Essen bekam ich, über zu viel Arbeit konnte ich auch