Buddhistische Lehrer raten uns, Ärger aufzugeben, Geduld zu entwickeln, Anhaftung loszulassen und das Nichtvorhandensein des Selbst zu verstehen. Das alles wird in einem Kontext disziplinierter gemeinsamer Übung – in der Sangha – gelehrt. Im Gegensatz dazu ermutigen Therapeuten jene, die emotional verschlossen sind, Gefühle von Wut zu erleben, und sie fördern das Streben nach Beziehung und Intimität. Dies geschieht in einem Rahmen, der Selbstbehauptung und Individualität unterstützt. Wie sollen wir beiden Herangehensweisen folgen?
Die von Aronson angeführten Gegensätze betreffen ein und denselben Grundunterschied: Traditionelle psychotherapeutische Ansätze wollen helfen, das Selbst zu heilen, wohingegen das buddhistische Modell des Wohlbefindens die befreiende Einsicht in die Selbst-Verblendung und die Entwicklung dessen betont, was Rubin als »nicht-selbstzentrierte Subjektivität« bezeichnet. Nach Rubin zeichnet keine der Überlieferungen für sich genommen ein umfassendes Bild davon, wer wir sind, welches Problem wir haben und wie wir uns ändern. In Psychotherapy and Buddhism führt er aus: »Buddhistische Modelle der Gesundheit könnten beispielsweise die Psychoanalyse lehren, dass es Möglichkeiten emotionalen Wohlbefindens gibt, die weit über die von psychoanalytischen Modellen beschriebenen Grenzen hinausgehen, während die Psychoanalyse dem Buddhismus helfen könnte, einige der unbewussten Störungen in der Meditationspraxis und in spirituellen Wachstumsprozessen zu verstehen.«
Erfreulicherweise wird man sich im blühenden Garten buddhistischer (und weiterer transpersonaler) Psychotherapien des Unterschiedes zunehmend bewusst und beginnt, die Beziehung zwischen den beiden zu erkunden. Der Buddhismus hebt das Nichtanhaften hervor: Wenn während der Meditation Gedanken oder Emotionen aufkommen, sollen wir sie gehen lassen. Eine der wichtigsten psychoanalytischen Entdeckungen seit Freud ist hingegen die Erkenntnis der lebenswichtigen Rolle gesunder Bindungen in der Kindheit.
Zahlreiche Studien und Untersuchungen der westlichen Psychologie zeigen, wie machtvoll sich eine enge Bindung und liebevolle Gewöhnung aneinander – das, was man »Bindungssicherheit« nennt – auf jeden Aspekt der menschlichen Entwicklung auswirken. Bindungssicherheit hat gewaltige Auswirkungen auf viele Dimensionen der Gesundheit, des Wohlbefindens und des Vermögens, wirksam in der Welt zu funktionieren: darauf, wie sich das Gehirn ausbildet, wie gut das endokrine und das Immunsystem funktionieren, wie wir mit Emotionen umgehen, wie stark wir zu Depressionen neigen, wie unser Nervensystem arbeitet und Stress bewältigt und wie wir mit anderen in Beziehung treten. Aufgrund ihrer Kindheit und der Einwirkungen der modernen Kultur leiden viele Menschen an Symptomen von Bindungsunsicherheit: Selbsthass, Körperferne, mangelnde Erdung, fortwährende Unsicherheit und Besorgtheit, hyperaktives Denken, ein Unvermögen, tief zu vertrauen, und ein tief sitzendes Gefühl innerer Unzulänglichkeit. Damit leiden die meisten von uns an einem extremen Grad der Entfremdung und Unverbundenheit, der früher ganz unbekannt war: Entfremdung von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Familie, den älteren Generationen, der Natur, der Religion, der Tradition, unserem Körper, unseren Gefühlen und unserer Menschlichkeit selbst.
John Welwood
Wie ist das buddhistische Ideal des Nichtanhaftens mit der Wichtigkeit menschlicher Bindungen in der kindlichen Entwicklung vereinbar? Es lohnt sich, Welwood ein weiteres Mal zu zitieren, weil er dies sehr gut erklärt:
Im Rahmen der menschlichen Evolution ist Nichtanhaften eine fortgeschrittene Lehre. Ich bin überzeugt, dass wir fähig sein müssen, befriedigende menschliche Bindungen zu formen, ehe echtes Nichtanhaften möglich ist. Andernfalls werden Menschen, die an Bindungsunsicherheit leiden, Nichtanhaften wahrscheinlich mit einem vermeidenden Bindungsverhalten verwechseln. Für Vermeidungstypen ist Bindung oder Anhaften tatsächlich unheimlich und bedrohlich. Die Heilung liegt für Vermeidungstypen darin, dass sie willens und fähig werden, ihre Bedürfnisse nach menschlicher Verbundenheit zu spüren, anstatt ihnen spirituell auszuweichen. Erst wenn das geschieht, kann Nichtanhaften zu etwas Sinnvollem werden.
Welwood verwendet den Begriff spiritual bypassing (spirituell ausweichen), um darauf hinzuweisen, dass man spirituelle Praktiken verwenden kann, um Gefühle und psychisch schwierige Dinge zu vermeiden: »Eine ›gute‹ spirituelle Praxis kann zu einer kompensatorischen Identität verhelfen, die eine tiefer liegende unzulängliche Identität, in der wir uns als schlecht, nicht gut oder grundlegend mangelhaft empfinden, überdeckt und abwehrt. Obwohl wir eifrig üben mögen, benutzen wir unsere spirituelle Praxis dann vielleicht im Dienst des Leugnens und Abwehrens.« Jack Engler, Psychotherapeut, Meditationslehrer und zugleich ein Pionier der transpersonalen Psychologie, gibt hierfür einige Beispiele: »Man kann Lehren über das Nicht-Selbst benutzen, um ein mangelhaft integriertes oder zusammenhängendes Selbst zu rationalisieren; Erleuchtung lässt sich als eine Art idealisiertes, aufgeblähtes Selbst missbrauchen; und Hingabe an die Lehrerin oder den Lehrer kann uns dazu bringen, uns selbst in spiegelnder Nachahmung der idealisierten Person als etwas Besonderes zu fühlen und dadurch innere Minderwertigkeitsgefühle zu verbergen.«
Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung dieses Dialogs gibt es Grund zur Hoffnung, denn er wurzelt empirisch in dem, was wirklich hilft, das Dukkha von Psychotherapie-Patienten und buddhistisch Praktizierenden zu verringern. In Anbetracht der vormodernen Wurzeln der buddhistischen Überlieferung stellt sich aus psychotherapeutischer Sicht die Frage, ob buddhistische Lehren den Entwicklungsprozess mythologisieren, indem sie das höchste Ziel als Transzendierung dieser Welt des Leidens und der Verblendung verstehen. Soweit es um die weltlichen Wurzeln und pragmatischen Ziele der Psychotherapie geht, können wir aus buddhistischer Sicht fragen, ob solche Therapien noch ein zu beschränktes Verständnis des menschlichen Potenzials beibehalten und Möglichkeiten ignorieren, die über die modernen Grundannahmen, was Menschsein bedeutet, hinausgehen.
Gerade die Spannung zwischen diesen Fragen macht das Gespräch zwischen beiden Perspektiven so faszinierend. In der Achtsamkeitsbewegung mit ihren außerordentlichen Erfolgen findet sich von dieser Spannung bisher aber noch kaum etwas.
Das bloße Nichtvorhandensein einer psychoneurotischen Erkrankung mag wohl Gesundheit sein, aber noch nicht Leben. … Wir sind wahrlich arm, wenn wir bloß normal sind.
Donald Winnicott
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