Beirut für wilde Mädchen. Chaza Charafeddine. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chaza Charafeddine
Издательство: Bookwire
Серия: Alltagshelden
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783949558061
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Mademoiselle Nawja mich zwei Tage später fragte, ob mein Vater den Brief denn auch bekommen hätte, behauptete ich, er habe überraschend verreisen müssen und könne deshalb nicht kommen. Von da an gab sie mir einen Brief nach dem anderen mit, und immer wieder fielen mir Gründe und Ausreden ein, weshalb mein Vater nicht kommen konnte: »Ganz sicher kommt er nächste Woche«, »Er hat sich das Bein gebrochen«, »Sein Auto ist kaputt«, »Meine Mutter hat ein Kind bekommen«, »Mein Großvater ist gestorben« und so weiter.

      Als ich Faten eines Tages von all den unterschlagenen Briefen berichtete, warnte sie mich. Was denn wäre, wenn Mademoiselle Najwa auf die Idee käme, bei meinem Vater anzurufen, um ihn zu fragen, ob er die Briefe bekommen habe. Wir müssen eine Lösung finden, meinte sie, und schlug vor, die Briefe zu öffnen und ihren Inhalt zu verändern und sie erst dann meinem Vater zu übergeben.

      Faten war viel erfahrener als ich. Hatte sie nicht schon einmal de Gaulle persönlich die Hand geschüttelt? Das hatte sie mir erzählt, als die Obernonne der Schule, Mère Marie Madeleine, uns vor dem Betreten der Klassenräume voller Trauer und Schmerz die Nachricht seines Todes überbrachte. Alle sprachen damals von de Gaulle, und mir schien, er sei nicht nur der Präsident Frankreichs, sondern auch des Libanons und somit auch der Präsident aller Nonnen und eigentlich von uns allen, und folglich war es für uns höchste Pflicht, um ihn zu trauern.

      Beim Murmelspiel im Sandkasten hatte Faten mir erzählt, dass sie de Gaulle die Hand gegeben habe, als er einmal aus irgendeinem wichtigen Anlass unsere Schule besucht hatte. Er habe sie nach dem Handschlag sogar mit freundlichen Worten in die Wange gekniffen. Ich bedauerte, ihn damals nicht gesehen zu haben. Und auch, dass Faten immer mehr Glück hatte als ich, obgleich ich der Überzeugung war, dass der Verstorbene ein Freund meines Großvaters gewesen war. Der war nämlich Politiker und hatte viele Freunde, ganz im Gegensatz zu Fatens Opa, der immer nur in seinem Dorf hockte.

      Jedenfalls öffneten wir den letzten Brief, verstanden aber beide nicht, was da geschrieben stand.

      Nur der hocharabische Ausdruck farigh as-sabr (»mit der Geduld am Ende«) machte uns stutzig. Wir wussten, das farigh »leer« bedeutet, das hatten wir erst wenige Tage zuvor gelernt, aber in Verbindung mit dem Wort sabr, das sowohl für »Geduld« als auch für »Kaktusfeigen« stehen kann, ergab es für uns keinen rechten Sinn.

      Wir waren ratlos. Wie sollten wir einen Brief inhaltlich abändern, dessen Bedeutung uns gar nicht klar war? So beschlossen wir, selbst einen Brief zu verfassen, und Faten schlug vor, ihren großen Bruder Fadi, der auf die Frères-Schule ging, darum zu bitten, einen solchen zu schreiben, damit wir nicht Gefahr liefen, durch unsere Handschrift aufzufliegen. Am nächsten Tag kam Faten mit einem von ihrem Bruder verfassten Brief, in dem in etwa stand, mein Vater solle mir doch bitte fünf Lira für eine Klassenfahrt ins Yasua-al-Malik-Kloster geben. Fadi ließ mir mitteilen, ich solle ihm von den fünf Lira etwas abgeben, falls mein Vater das Geld rausrückte.

      Aber bevor ich den Brief zu Hause abgab, wollte ich erst einmal vorfühlen und sagte daher zu meiner Mutter, dass alle Schülerinnen meiner Klasse in der kommenden Woche fünf Lira mitbringen müssten, weil wir eine Klassenfahrt nach Yasua al-Malik machten. Verwundert sah meine Mutter mich an und bemerkte, dass wir doch erst im letzten Monat dort gewesen seien. »Wieso veranstalten die bei euch jeden zweiten Tag einen Ausflug?«, meinte sie und ließ mich dieses Mal nicht teilnehmen. Ich musste mir also etwas anderes einfallen lassen und ich beschloss, den Brief doch nicht meinem Vater zu übergeben und stattdessen weiterhin Mademoiselle Najwa anzulügen.

      Als ich Mademoiselle Najwa am nächsten Morgen in die Schule kommen sah, tat ich rasch so, als würde ich etwas lesen, damit sie ja nicht zu mir käme und wieder mit den Briefen anfing. Aber die Frau Lehrerin interessierte sich nicht für meine vertiefte Lektüre und fragte mich unvermittelt, ob denn mein Vater noch immer nicht zurück sei von seiner Reise. Ich sagte, nein, das ist er nicht. Ob ich ihm den letzten Brief gegeben hätte? Ja, das habe ich, log ich. Und, kommt er bald in die Sprechstunde? Momentan ist er sehr beschäftigt, war meine Antwort. »Na gut!«, sagte sie mit spitzen Lippen und fügte dann mit weit offenem Mund hinzu, sodass ich das Weiße auf ihrer Zunge sehen konnte: »Lies nur schön weiter. Wir werden ja sehen, ob dir das bei der Abschlussklausur etwas nützt!« Und damit gab sie mir einen weißen Umschlag mit dem Hinweis, dass dies jetzt der letzte Brief sei. Als ich ihn zusammen mit Faten öffnete, lasen wir: »Ich erwarte dich am Donnerstag um 17 Uhr im Arlequin. Najwa.« Faten und ich wussten, dass das Arlequin ein Café war, aber wir begriffen nicht, warum sie ihn ausgerechnet dort treffen wollte. Es hatte noch nie eine Klassenfahrt dorthin gegeben. Faten meinte, diesmal würde die Sache bestimmt auffliegen. Denn was wäre, wenn Mademoiselle Najwa dort auf meinen Vater wartete und er nicht käme?

      Mein Vater

      Als mein Vater eines Tages in die Schule kam, um sich mein Vorspiel bei einem Klavierwettbewerb anzuhören, und wir noch darauf warteten, dass Sœur Marie uns ins Vorspielzimmer bat, belauschte ich zufällig ein Gespräch, das mir einiges über Frauen verriet. Mademoiselle Georgette, die blonde Arabisch-Lehrerin, die immer grell geschminkt in die Schule kam, unterhielt sich flüsternd mit Mademoiselle Hiyam, der Aufseherin mit der dicken Brille, im Lehrerinnenzimmer gegenüber dem Vorspielsaal. »Hör mal«, tuschelte Georgette, »jetzt mal ehrlich, ist das nicht ein toller Hecht da draußen? Glücklich, wer den zum Mann hat! Ist seine Frau denn hübsch, weißt du da was?«

      Aus irgendeinem Grund ärgerte mich diese Bemerkung so sehr, dass ich versucht war, zu ihnen rüberzugehen und ihnen zu bestätigen, dass meine Mutter tatsächlich hübsch sei. Aber ich schwieg aus Angst vor der Strafe, die mir unweigerlich blühte, wenn die beiden Damen mitbekämen, dass ich sie belauscht hatte. Ich schaute zu meinem Vater, aber der blickte nur verdrossen auf die Uhr.

      An diesem Tag begriff ich, dass seine Schönheit auf seine Umgebung ausstrahlte, und ich begann auf die Gesichter der Nonnen und der Lehrerinnen zu achten, sobald mein Vater aus irgendeinem Anlass die Schule betrat. Und tatsächlich: Ihre Wangen wurden rosig, ihre Mienen waren zuerst steif, dann entspannt und weich. Und wenn mein Vater etwas Nettes zu den Lehrerinnen sagte, geriet so manche von ihnen in Verlegenheit oder entkrampfte sich. Welch Gegensatz zu ihren sonst immer sauertöpfischen Gesichtern! Mademoiselle Najwa dagegen sprach in Gegenwart meines Vaters fast stotternd und mit einer ungewohnt dünnen Stimme. Zwischenrein lächelte sie gezwungen und schaffte es trotzdem, einen friedlichen und sanften Gesichtsausdruck aufzusetzen, während ihr Blick hektisch zwischen Fenster, der Weste meines Vaters, seinen Händen, seinen Ohren, seiner Mundhöhle, seinen Haaren, seinem Hemdausschnitt hin und her zuckte. Obendrein wirkten ihre Augen müde und glänzten auf ungewohnte Weise. Mir schien, als sei sie im Begriff, gleich umzukippen.

      Aber leider ging das nicht lange so. Als mein Vater Ende des Schuljahres kam, um zu erfragen, warum ich denn durchgefallen sei, antwortete Mademoiselle Najwa spitz, mit Anspannung in der Stimme, obwohl er sehr nett mit ihr gesprochen und dabei das große braune Muttermal an ihrem unteren Nasenrand ebenso wie ihre abscheuliche Miene ignoriert hatte. Sie sagte, mein Vater müsse mich für das Sitzenbleiben bestrafen, und zwar durch Streichen meiner Klavierstunden — für das ganze kommende Schuljahr. Meine Klavierstunden! Warum denn ausgerechnet die? Warum verbot sie mir stattdessen nicht die Teilnahme an der Schulabschlussfeier, die ich immer so widerwärtig fand, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte? Oder die Teilnahme an einem Ausflug nach Harisa zur gigantischen Marienstatue, wo unser einziger Zeitvertreib darin bestand, Ketten mit Ikonenbildern zu kaufen und sie uns um den Hals zu hängen? Ich war zwar kein Genie am Klavier, aber die Klavierstunden in der Schule waren die einzigen, während derer ich nicht nachdenken musste, was sich wohl hinter den Glasscheiben, die über allen Türen in der Schule angebracht waren, verbarg. Warum die Klavierstunden, Mademoiselle Najwa?

      Mein Vater bestrafte mich tatsächlich mit der Streichung des Klavierunterrichts, obwohl meine Mutter es gerade erst geschafft hatte, ihn zum Kauf eines Klaviers zu überreden. Das Klavier sollte auch geliefert werden, sofern ich das kommende Schuljahr bestünde, hieß es.

      Ich glaube, ich wäre noch ein weiteres Mal durchgefallen, hätten wir nicht im Laufe des darauffolgenden Jahres die Schule gewechselt. Von den letzten Monaten an der Notre-Dame-du-Liban-Schule habe ich nur noch explodierende Granaten in