Wladimir Iljitsch Uljanow, der spätere Lenin, wuchs demnach in einer religiös geprägten, bürgerlichen, kulturell liberalen Familie auf, die großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte, denn besonders Lenins Vater wusste um die Bedeutung von Bildung, die auch seinen sozialen Aufstieg ermöglicht hatte. Wladimir Iljitsch wurde als viertes Kind seiner Eltern geboren und bekam noch vier jüngere Geschwister. Er verlebte eine glückliche Kindheit und war ein aufgeweckter, fröhlicher Junge mit einem ansteckenden Lachen.
2. Ein begabter Schüler und Student (1877–1892)
Sein autoritärer Vater war als Volksschulinspektor oft auf Reisen unterwegs, und so blieb die strenge religiöse, aber auch liberale Erziehung der Kinder die Sache von Lenins Mutter, die sie zu fleißigen und leistungswilligen Mitmenschen erzog. Sie förderte Wladimir Iljitschs Neugier auf Unbekanntes, seine hohe Arbeitsdisziplin und seinen unbändigen Fleiß beim Lernen. Es verwundert wenig, dass Wladimir Iljitsch bereits im Alter von neun Jahren auf das Gymnasium wechseln durfte. Seine Lehrer waren voll des Lobes über den sehr guten, außerordentlich begabten und akkuraten Schüler mit der schnellen Auffassungsgabe. Sie lobten ebenso sein stets umsichtiges und kameradschaftliches Verhalten anderen Mitschülern und den Lehrern gegenüber. Die allseits geschätzte Familie Uljanow war in den gesellschaftlichen Kreisen von Simbirsk anerkannt und weit davon entfernt, oppositionelle Tätigkeiten, die gegen den Zaren Alexander des III. gerichtet waren, gutzuheißen, geschweige denn diese zu unterstützen.
Als Lenins Vater im Alter von 55 Jahren im Januar 1886 völlig unerwartet an einer Hinblutung verstarb, war die Familie zwar plötzlich auf sich allein gestellt, jedoch materiell abgesichert. Die Witwenrente von etwa 100 Rubel monatlich hätte nur geringen Lebensstandard ermöglicht, jedoch kamen Einnamen aus der Verpachtung eines Landguts hinzu, das die Eltern aus der ehelichen Mitgift von Lenins Mutter erworben hatten.
Der sechzehnjährige Wladimir Iljitsch war zwar vaterlos geworden, jedoch prägte ein ganz anderes Ereignis den jugendlichen Lenin ein Jahr später, 1887, tiefgreifend. Es war die Hinrichtung seines geliebten Bruders Alexander. Für den jugendlichen Wladimir Iljitsch war sein Bruder Alexander sein großes Vorbild, er war sein Idol. Alexander, der ebenfalls ein hervorragender Schüler und Student war, hatte sich der revolutionären Organisation „Narodnaja Wolja“ (Wille des Volkes) angeschlossen. Gemeinsam mit seinen Verbündeten plante er ein Attentat auf den Zaren. Die zaristische Geheimpolizei vereitelte die Pläne und verhaftete Alexander. Ein Gericht verurteilte Alexander zur Höchststrafe. Trotz des vergeblichen Versuchs der Mutter, mittels eines Gnadengesuchs beim Zaren persönlich die Strafe abzumildern, wurde Alexander Uljanow im Mai 1887 in St. Petersburg gemeinsam mit vier Mitangeklagten durch den Strang hingerichtet. Fortan wurde die Familie Uljanow in Simbirsk gemieden und ausgegrenzt.
Der siebzehnjährige Lenin wurde auf eine harte Probe gestellt, denn in den Tagen unmittelbar vor der Hinrichtung seines Bruders Alexander begannen seine Abiturprüfungen. Unbeirrt und durch große Willenskraft erzielte Wladimir Iljitsch sehr gute Noten und wurde beim Abschluss des Gymnasiums mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Der schmerzliche Verlust des geliebten Bruders war eine Zäsur im Leben des jungen Lenins, denn er wurde dadurch ebenso zum erbitterten Gegner des Zaren. Die revolutionären Ansichten seines Bruders interessierten ihn plötzlich, er las eifrig die ihm von Alexander hinterlassenen Bücher wie jenes des in der Verbannung lebenden Sozialrevolutionärs Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, der für eine Gesellschaft ohne Grenzen und Klassenunterschiede eintrat.
Wladimir Iljitsch hatte zahlreiche intellektuelle Interessen wie Literatur und Altphilologie, zudem wurde er ein hervorragender Schachspieler. Er wollte unbedingt das Werk seines Bruders vollenden, erkannte jedoch schnell, dass das repressive System des russischen Zarismus nicht bloß mit einem Attentat zu überwinden sei, sondern nur mittels grundlegender Veränderungen der Gesellschaft, die notfalls mit Gewalt einzuleiten und durchzusetzen wären. Immer wieder erzählte Lenin später Vertrauten, dass sein Werdegang unmittelbar mit den Ereignissen um die Verhaftung und Hinrichtung seines Bruders zusammenhing. Sie hatten ihm die Augen geöffnet und auch das religiöse Erbe seiner Erziehung überwinden lassen.
Wladimir Iljitsch durfte nicht in St. Petersburg studieren, so wurde er mit 17 Jahren Student der Rechtswissenschaften an der Universität Kasan und geriet dort ebenfalls nach kurzer Zeit in das Visier der Polizei, denn seit der Verhaftung des Bruders wurde die gesamte Familie geheimpolizeilich überwacht.
Zu dieser Zeit 1887 hatte die Bespitzelung und Unterdrückung von Andersdenkenden im zaristischen Russland einen weiteren Höhepunkt erreicht. Praktisch alle Studentenkreise wollten eine Veränderung und viele von ihnen unterstützten revolutionäre Ideen, die Abschaffung des Zarismus forderten. Überhaupt nahm die Verbreitung der Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels in Studentenkreisen rasant zu. Marx und Engels gut zu finden, war modern geworden und entsprach dem allgemeinen Zeitgeist der studentischen Jugend. Der junge Lenin beteiligte sich immer wieder an studentischen Protesten, wurde schließlich verhaftet und musste einige Tage mit weiteren 40 Verhafteten im Gefängnis einsitzen. Als Konsequenz der Beteiligung an den Protesten wurde Wladimir Iljitsch der Universität verwiesen und musste Kasan verlassen, obwohl die gesamte Familie Uljanow gerade erst nach Kasan umgezogen war. Der Vater des späteren Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, Fjodor Kerenski, der Lenins Lehrer am Gymnasium gewesen war und darum wusste, was für ein mustergültiger Schüler der junge Lenin gewesen war, bemühte sich erfolglos um die Aufhebung der Strafmaßnahme.
Von den Behörden wurde festgelegt, dass Wladimir Iljitsch fortan unter Polizeiaufsicht auf dem Gutshof der Blankschen Großeltern in dem abgeschiedenen Dorf Kokuschkino zu leben habe. Seine ältere Schwester Anna musste bereits dort in großer Einsamkeit leben, denn sie war im Frühsommer 1887 zusammen mit ihrem Bruder Alexander verhaftet und verurteilt worden.
Ein ganzes Jahr musste der junge Lenin in der Einsamkeit verbringen und nutzte die Zeit mit intensivem Selbststudium zu historischen Umbrüchen der Menschheitsgeschichte und ging, wie in bürgerlichen Kreisen damals üblich, zur Jagd. Im Oktober 1888 konnte er und seine Familie endlich wieder nach Kasan zurückkehren und eine Stadtwohnung anmieten. Sein studentisch geprägtes Umfeld versorgte den Achtzehnjährigen fortan mit Büchern zu revolutionären Fragestellungen, die er eifrig durcharbeitete. Darunter befand sich vermutlich eine Ausgabe des „Kapitals“ von Karl Marx. Immer häufiger traf er nun mit bäuerlichen Revolutionären zusammen.
Im Mai 1898 kaufte Lenins Mutter der Familie ein eigenes Landgut nahe der Stadt Samara und die Familie zog dorthin um. Die zaristische Geheimpolizei registrierte aufmerksam, wer sich alles im Gut des Dorfs Alakajewka einquartierte, neben der Mutter nämlich die jungen Revolutionäre Anna und Wladimir Iljitsch.
Der junge Lenin fremdelte mit dem trostlosen Landleben in der kargen Gegend und seiner Stellung als Gutsbesitzer und den Aufgaben als dessen Verwalter, die er lustlos und mit wenig finanziellem Verständnis erfolglos ausübte. Daraufhin beschloss die Mutter, ihm die Gutsleistung zu entziehen und das Gut fortan zu verpachten. Wladimir Iljitsch vermied den Kontakt zu den ansässigen verarmten Pachtbauern und ging ihnen aus dem Weg, auch um Konflikten vorzubeugen und sich offenbar mit dem augenscheinlichen Elend dieser Menschen nicht auseinanders etzen zu müssen. Ihn interessierten andere Dinge und größere Zusammenhänge. Er war ein kluger Intellektueller, wie viele seiner späteren revolutionären Kampfgenossen, liebte Wanderungen, erzog geduldig seine jüngeren Geschwister und lebte vom Geld seiner Familie.
Der ländlichen Situation überdrüssig, zog der junge Lenin bereits nach wenigen Monaten wieder zurück nach Samara, wo er sein Studium wieder aufnehmen wollte, was ihm trotz einiger Bemühungen die Behörden jedoch vorerst versagten. Im Mai 1890 erlaubten sie ihm endlich, als externer Student an der Universität sein Studium wieder aufzunehmen, und zwar: in St. Petersburg. Bereits ein Jahr später konnte er durch großen Fleiß und Willen die aus Sicht Lenins nicht allzu komplizierten, staatlichen Prüfungen der juristischen Fakultät St. Petersburg abzulegen beginnen. Im Januar 1892, als Einundzwanzigjähriger, erhielt er das juristische Universitätsdiplom ersten Grades, was der Graduierung zum Doktor entspricht.