484. Das Verhältniß der Künste und Wissenschaften zum Leben ist nach Verhältniß der Stufen, worauf sie stehen, nach Beschaffenheit der Zeiten und tausend andern Zufälligkeiten sehr verschieden; deswegen auch niemand darüber im Ganzen leicht klug werden kann.
484 a (= 233). Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz roh, halbcultivirt oder bei [82]Abänderung einer Cultur, bei’m Gewahrwerden einer fremden Cultur, daß man also sagen kann, die Wirkung der Neuheit findet durchaus statt.
485. Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr je älter sie ist, je gewohnter man sie ist, desto mehr wirkt sie.
486. Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte. Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt.
487. Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde ganz gemäß, und hier hat sie die größte Wirkung auf’s Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte durchaus heiter sein.
488. Eine Musik, die den heiligen und profanen Charakter vermischt, ist gottlos, und eine halbschürige, welche schwache, jammervolle, erbärmliche Empfindungen auszudrücken Belieben findet, ist abgeschmackt. Denn sie ist nicht ernst genug, um heilig zu sein, und es fehlt ihr der Hauptcharakter des Entgegengesetzten: die Heiterkeit.
489. Die Heiligkeit der Kirchenmusiken, das Heitere und Neckische der Volksmelodien sind die beiden Angeln, um die sich die wahre Musik herumdreht. Auf diesen beiden Puncten beweis’t sie jederzeit eine unausbleibliche Wirkung: Andacht oder Tanz. Die Vermischung macht irre, die Verschwächung wird fade, und will die Musik sich an Lehrgedichte oder beschreibende und dergleichen wenden, so wird sie kalt.
490. Plastik wirkt eigentlich nur auf ihrer höchsten Stufe; alles Mittlere kann wohl aus mehr denn Einer Ursache imponiren, aber alle mittleren Kunstwerke dieser Art [83]machen mehr irre, als daß sie erfreuen. Die Bildhauerkunst muß sich daher noch ein stoffartiges Interesse suchen, und das findet sie in den Bildnissen bedeutender Menschen. Aber auch hier muß sie schon einen hohen Grad erreichen, wenn sie zugleich wahr und würdig sein will.
491. Die Malerei ist die läßlichste und bequemste von allen Künsten. Die läßlichste, weil man ihr um des Stoffes und des Gegenstandes willen auch da, wo sie nur Handwerk oder kaum eine Kunst ist, vieles zu Gute hält und sich an ihr erfreut; theils, weil eine technische, obgleich geistlose Ausführung den Ungebildeten wie den Gebildeten in Verwunderung setzt, so daß sie sich also nur einigermaßen zur Kunst zu steigern braucht, um in einem höheren Grade willkommen zu sein. Wahrheit in Farben, Oberflächen, in Beziehungen der sichtbaren Gegenstände auf einander ist schon angenehm, und da das Auge ohnehin gewohnt ist, alles zu sehen, so ist ihm eine Mißgestalt und also auch ein Mißbild nicht so zuwider als dem Ohr ein Mißton. Man läßt die schlechteste Abbildung gelten, weil man noch schlechtere Gegenstände zu sehen gewohnt ist. Der Maler darf also nur einigermaßen Künstler sein, so findet er schon ein größeres Publicum als der Musiker, der auf gleichem Grade stünde; wenigstens kann der geringere Maler immer für sich operiren, anstatt daß der mindere Musiker sich mit anderen sociiren muß, um durch gesellige Leistung einigen Effect zu thun.
492. Die Frage, ob man bei Betrachtung von Kunstleistungen vergleichen solle oder nicht, möchten wir folgendermaßen beantworten: Der ausgebildete Kenner soll vergleichen; denn ihm schwebt die Idee vor, er hat den Begriff gefaßt, was geleistet werden könne und solle; der [84]Liebhaber, auf dem Wege zur Bildung begriffen, fördert sich am besten, wenn er nicht vergleicht, sondern jedes Verdienst einzeln betrachtet: dadurch bildet sich Gefühl und Sinn für das Allgemeinere nach und nach aus. Das Vergleichen der Unkenner ist eigentlich nur eine Bequemlichkeit, die sich gern des Urtheils überheben möchte.
493. Wahrheitsliebe zeigt sich darin, daß man überall das Gute zu finden und zu schätzen weiß.
494. Ein historisches Menschengefühl heißt ein dergestalt gebildetes, daß es bei Schätzung gleichzeitiger Verdienste und Verdienstlichkeiten auch die Vergangenheit mit in Anschlag bringt.
495. Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.
496. Eigenthümlichkeit ruft Eigenthümlichkeit hervor.
497. Man muß bedenken, daß unter den Menschen gar viele sind, die doch auch etwas Bedeutendes sagen wollen, ohne productiv zu sein, und da kommen die wunderlichsten Dinge an den Tag.
498. Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publicum einen bösen Stand.
499. Wenn ich die Meinung eines andern anhören soll, so muß sie positiv ausgesprochen werden; Problematisches hab’ ich in mir selbst genug.
500. Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.
501. Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten. Wird uns doch ein [85]Gegenstand unter einem Winkel von fünfundvierzig Graden erst faßlich.
502. Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.
503. Ich schweige zu vielem still; denn ich mag die Menschen nicht irre machen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da, wo ich mich ärgere.
504. Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.
505. Das Was des Kunstwerks interessirt die Menschen mehr als das Wie; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im Ganzen nicht fassen. Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalität auch nicht ausbleibt, aber jedem unbewußt.
506. Die Frage: »Woher hat’s der Dichter?« geht auch nur auf’s Was; vom Wie erfährt dabei niemand etwas.
507. Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.
508. Das Manierirte ist ein verfehltes Ideelle, ein subjectivirtes Ideelle; daher fehlt ihm das Geistreiche nicht leicht.
509. Der Philolog ist angewiesen auf die Congruenz des geschrieben Überlieferten. Ein Manuscript liegt zum Grunde, es finden sich in demselben wirkliche Lücken, Schreibfehler, die eine Lücke im Sinne machen, und was sonst alles an einem Manuscript zu tadeln sein mag. Nun findet sich eine zweite Abschrift, eine dritte; die Vergleichung derselben bewirkt immer mehr, das Verständige und Vernünftige der Überlieferung gewahr zu werden. Ja er geht weiter und verlangt von seinem innern Sinn, daß derselbe ohne [86]äußere Hülfsmittel die Congruenz des Abgehandelten immer mehr zu begreifen und darzustellen wisse. Weil nun hierzu ein besonderer Tact, eine besondere Vertiefung in seinen abgeschiedenen Autor nöthig und ein gewisser Grad von Erfindungskraft gefordert wird, so kann man dem Philologen nicht verdenken, wenn er sich auch ein Urtheil bei Geschmackssachen zutraut, welches ihm jedoch nicht immer gelingen wird.
510. Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äußerlich; je mehr sie sich in’s Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken. – Diejenige, die nur das Innere darstellt, ohne es durch ein Äußeres zu verkörpern, oder ohne das Äußere durch das Innere durchfühlen zu lassen, sind beides die letzten Stufen, von welchen aus sie in’s gemeine Leben hineintritt.
511. Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vortheile der Poesie, auf alle ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vortheile im bürgerlichen Leben zu erreichen.
512. Literatur ist das Fragment