»Was sagst du? Ich verstehe dich nicht!«
»Taxi und Onkel Doktor!«, brüllte er ins Telefon. »Heute Abend komme ich vorbei und schaue mir die Sache an.«
»Ist gut, Daniel, danke! Gib mir mal die Handynummer von Bärbel, ich will sie anrufen! Hab das Notizbüchlein mit ihrer Nummer verlegt.«
»Sie ist nicht da, wird sich aber bei dir melden. Tschüss, Oma, bis nachher!«
Er legte auf. »Typisch Oma«, sagte er zu Birthe, »immer auf der Suche – nach ihrer Brille, ihren Zähnen, ihren Medikamenten oder ihrem Haustürschlüssel. Alt ist sie geworden in der letzten Zeit. Früher hat die Oma auf mich aufgepasst, jetzt ist es umgekehrt.«
Birthe nickte. »Das ist der Lauf der Zeit. Sei froh, dass du noch eine Oma hast! Weißt du was, wir gehen morgen zusammen zum Konzert«, sagte sie, als sie gerade das Felix-Nussbaum-Haus passierten.
»Klar gehe ich mit dir da hin«, stellte er fest und grinste. »Ich würde überall mit dir hingehen.«
Sie antwortete nicht, schüttelte nur leicht den Kopf.
»Was findest du eigentlich an ihm? Hast du das Gefühl, ihr passt zusammen?«
Birthe wollte nicht über Henning reden. Ihre rosarote Brille hatte sie ohnehin längst abgelegt. Sie hatte sich die Beziehung mit ihm einfacher vorgestellt. Als sie sich vor fast einem Jahr in Norden kennengelernt hatten, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatte geglaubt, in Henning Achterdiek den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Stundenlang hatten sie geredet, gelacht, gefachsimpelt, aber auch tiefgründige Gedanken geteilt. Schöne Tage waren das gewesen in Norddeich, mit langen Strandspaziergängen, leckerem Fisch am Hafen und einem wunderschönen Sonnenuntergang am Meer. Manchmal wurde ihr wehmütig ums Herz, wenn sie an ihre Anfänge zurückdachte.
*
Henning kam ihr im Flur entgegen, als sie knapp zwei Stunden später die Haustür aufschloss. »Hab’s schon gehört«, sagte er. »Die Tote war Sängerin, gehörte zu einer Osnabrücker Band. Läuft gerade nicht wirklich rund mit uns, was?«
Sie ließ sich von ihm in die Arme ziehen. »Leider nicht«, sagte sie. »Es tut mir sehr leid. Ich hatte mir den Tag mit dir auch anders vorgestellt!«
»Möchtest du einen Tee? Ich habe eine Kanne auf dem Stövchen stehen.« Er ging vor in die Küche und sie folgte ihm, nahm Platz auf der Eckbank aus den 60er-Jahren, die Birthe mal vom Sperrmüll geholt hatte.
Er brachte ihr einen Becher und schenkte auch sich nach. Ihr fiel auf, dass er neue Jeans trug und ein blau-gelb kariertes Hemd, das sie noch nie an ihm gesehen hatte. Anscheinend war er außerdem vor Kurzem beim Friseur gewesen, denn seine Haare waren kürzer als sonst. Sie schämte sich, dass sie ihn jetzt erst richtig wahrnahm, obwohl er schon gestern angereist war und sie am Morgen zusammen gefrühstückt hatten. »Was hast du gemacht in den letzten Stunden?«, fragte sie und nippte an dem Tee. Plötzlich merkte sie, dass Tränen in ihr aufstiegen. Das geplatzte Wochenende mit Henning, Müdigkeit, Erschöpfung, die Konfrontation mit den Eltern des Opfers – es war gerade alles zu viel. »Die gemeinsame Zeit mit dir ist sowieso immer zu kurz. Umso bitterer ist es, wenn davon noch viel abgezogen wird. Es tut mir leid, dass ich so lange weg war. Die Ermittlungen am Tatort, erste Vernehmungen, der Besuch bei den Eltern der Toten, es hat sich alles ewig hingezogen.« Verstohlen wischte sie eine Träne weg.
»Kein Problem, wirklich. Wenn einer Verständnis für deine Arbeit hat, dann ich. Als Polizisten sind wir es doch gewohnt, dass das Privatleben manchmal hinten anstehen muss. Keine Sorge, ich habe mich nicht gelangweilt. Ich hatte Gelegenheit, mich ein bisschen mit deinen Mitbewohnerinnen zu unterhalten. Yuki und Hoi-Hoi ziehen zum Monatsende aus, das hast du mir nicht erzählt.«
»Habe ich nicht? Es stimmt, sie haben endlich eine bezahlbare kleine Wohnung in der Innenstadt gefunden. Wenn sie nur noch zu zweit wohnen, können sie sich endlich in der Küche ausbreiten, das ist ihnen wichtig. Keiner mehr da, der sich über den Fischgeruch und den brodelnden Reiskocher morgens um 7 aufregt.«
»Traurig?«
»Ein bisschen schon. Ich habe mich an sie gewöhnt. Mit Veränderungen kann ich nicht so gut umgehen. Man weiß nie, was danach kommt. Ist schließlich nicht gesagt, dass es besser wird. Willst du nicht bei mir einziehen?« Sie lachte verlegen. Die Frage war ihr spontan rausgerutscht.
Er seufzte tief. »Ach, Birthe, ich weiß, die Situation ist nicht besonders schön im Moment. Aber Osnabrück gefällt mir nicht sonderlich. Ich bin ja aus Hannover weggezogen, gerade weil ich nicht mehr in einer Großstadt leben wollte. Zum Schluss ist mir alles auf die Nerven gefallen, der Verkehr, die Parksituation in der Innenstadt, zu viele Menschen auf einem Haufen, zu viele Autos, zu viele Fahrräder, die langen Wege. Als Polizist bist du obendrein ganz anders gefordert als in einer beschaulichen Kleinstadt. Ein Kapitalverbrechen passiert bei uns höchst selten. Wir haben es eher mit Körperverletzung, Sachbeschädigungen oder Eigentumsdelikten zu tun. Ab und zu werden wir zu häuslichen Konflikten gerufen. Alles in Maßen. Der Einzelne steht viel stärker unter Beobachtung. Das ist das Gute an einer Kleinstadt oder einem Dorf. Die soziale Kontrolle funktioniert noch. In der Regel benehmen sich die Leute anständiger, wenn es nicht so anonym zugeht. Ich habe mich bewusst wieder für die Küste entschieden, ich mag das raue Klima, die Ruhe und Beschaulichkeit und den Menschenschlag, der gut zu mir passt. Jetzt in eine Großstadt zu ziehen, wäre für mich eine Strafe, auch wenn ich dich liebe und am liebsten rund um die Uhr mit dir zusammen wäre. Komm du doch zu mir! Norden ist einfach perfekt. Es lebt sich gut da. Klein, überschaubar, gemütlich, nicht weit zum Meer … Du findest es doch auch schön. Hast gesagt, dass du glücklich bist in Norden.«
»Natürlich«, sagte sie schnell. »Für ein Wochenende, für einige Tage oder eine Woche. Sogar sehr glücklich. Aber auf Dauer? Für immer?« Es gelang ihr nicht, ihm in die Augen zu schauen. »Dort leben und mich von deinem Kollegen rumkommandieren lassen? Fiete Bontjes ist keine Alternative.«
»Du hättest auch mich als Kollegen«, sagte Henning leicht gekränkt.
»Ja, aber noch lieber habe ich dich ausschließlich als Liebhaber und Partner. Viel, viel lieber! Es ist oft nicht gut, mit dem Partner zusammenzuarbeiten. Das bringt Stress in eine Beziehung.«
»Schade«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Das ist mir alles irgendwie neu, und ich muss es erst einmal verdauen.«
»Okay. Und ich hatte gedacht, du würdest gerne zu mir nach Osnabrück ziehen. Ich hatte es gehofft.«
Er seufzte und trank seinen Tee. »Natürlich fehlst du mir. Ich vermisse dich schon im Auto, wenn ich nicht einmal ganz aus Osnabrück raus bin. Dann geht’s mir richtig dreckig, und ich würde am liebsten sofort das Steuer rumreißen und zurückfahren.«
»Offensichtlich reicht das nicht. Also bleibt eben alles beim Alten«, sagte Birthe traurig. »Wenn keiner von uns beiden bereit ist, sein Leben umzukrempeln und einen Neuanfang zu wagen.«
»Du kannst mir keinen Vorwurf machen, wenn du selbst nicht bereit für eine Veränderung bist. Ich habe dich mehr als einmal gefragt, ob du zu mir ziehen willst. Es muss nicht bei meiner jetzigen Bude bleiben. Wir können uns gemeinsam eine größere Wohnung suchen. Mit zwei Einkommen haben wir mehr Spielraum. Ich hätte Spaß dabei, alles mit dir einzurichten. Weißt du noch, wie wir neulich zusammen durch das Norder Möbelhaus gestreift sind und uns vorgestellt haben, wie unser gemeinsames Wohnzimmer aussehen würde? Die Küche? Das Schlafzimmer? Wie wir unser Nest geplant haben und uns bei den meisten Dingen einig waren?« Seine Stimme hatte einen weichen Klang angenommen.
Birthe schwieg. Sie hatte keine Lust auf Diskussionen dieser Art, fühlte sich gegängelt und unter Druck gesetzt. Sie hatte sich auf Henning gefreut und Pläne für das Wochenende geschmiedet. Stattdessen saßen sie nun zusammen bei einer Tasse Tee und machten sich gegenseitig das Leben schwer.
Ihre Beziehung hatte vor fast einem Jahr begonnen. Im letzten Sommer hatten sie sich kennengelernt, als Birthe von ihrem Chef für einige Tage an die Küste geschickt