Die Müdigkeit zog fast schmerzhaft durch ihre Glieder, während sie langsam mit ihrer Hand über den dreckigen Bürotisch strich, als hoffte sie, auf diese Weise ihre tiefe Verzweiflung beiseitewischen zu können, so wie diesen grauen Staub. Aber ihren Fehler konnte sie nicht ungeschehen machen.
Als Nora aus dem Fenster blickte, entdeckte sie zwei Eichhörnchen, die auf der von schmutzigem Schnee bedeckten Wiese, die durch kleine grüne Rasenflecken durchbrochen war, hektisch hin und her liefen und emsig damit beschäftigt waren, die Nüsse zu finden, die sie im Herbst vergraben hatten. Aufgeregt piepsend jagten sie sich plötzlich, als würden sie Fangen spielen. In Einstimmung auf die verfrühte Paarungszeit sprangen sie in einem atemberaubenden Tempo von Ast zu Ast und stießen sich dabei mit ihren muskulösen Hinterbeinen wendig von den wackelnden Zweigen ab. Sie rasten durch den blattlosen Baumbestand und lieferten sich eine wilde Verfolgungsjagd, in deren Verlauf gelegentlich ihre weißen Bäuche aufblitzten. Nora war gefangen von diesem Schauspiel und vergaß für einen Moment ihre düsteren Gedanken. Fasziniert und mit einem Lächeln im Gesicht schaute sie den Nagern hinterher, als jemand das Büro betrat. Alexander Berend blieb im Türrahmen mit einem Stapel brauner Akten stehen.
Nora drehte sich zu ihm um und musterte ihn eingehend. Seine Haare waren rötlich, und er trug einen Dreitagebart, wie Max Siebert. Dennoch hatte er durch seinen olivfarbenen Hautton insgesamt ein südeuropäisches Erscheinungsbild. Alexander Berend war groß und sportlich gekleidet und blickte Nora neugierig an. Sie sah ihm direkt in seine braun-grünen Augen und versuchte, seinem Blick standzuhalten. Er trat an ihren Tisch, legte die Akten ab und streckte ihr zur Begrüßung freundlich seine Hand entgegen. „Ich bin der stellvertretende Leiter der Mordkommission. Wenn wir in den nächsten Tagen eine Aufgabe für dich haben, werden wir dich sofort einsetzen. Bis dahin bitte ich dich, die tagesaktuellen und teilweise sehr eiligen Vermisstenvorgänge durchzusehen und gegebenenfalls Anträge beim Haftgericht zu stellen. Wir freuen uns über deine Teamverstärkung und auf gute Zusammenarbeit.“
Mit diesen Worten ließ er sie mit ihrer neuen Aufgabe im Büro zurück.
Missmutig zog sie den Aktenstapel zu sich und sichtete die Akten. Schon nach nicht ganz zwanzig Minuten fielen ihre Augen immer wieder zu, und sie fragte sich, was schlimmer war: dienstunfähig am Computer Verwaltungskram zu bearbeiten oder Vermisstenanzeigen durchzugehen. Sie konnte sich nicht entscheiden.
Auf einer der Akten las sie das Aktenzeichen LKA HH 141 033/1K/3033312/2015. So viele meiner Glückszahlen, dachte Nora und merkte auf. Zögerlich führte sie ihre Hand unter den rauen Aktendeckel und schlug den Vorgang auf.
Eine Anzeige zum Nachteil Simone Maar. Sie blätterte oberflächlich die Akte durch und las:
Am Montag, den 7.12.2019 gegen 9 Uhr, erreichte das PK 33 ein anonymer Anruf. Die Anruferin teilte mit, dass ihre Arbeitskollegin Simone Maar seit Sonntagabend vermisst sei. Auf mehrfache Frage des Unterzeichners, ob die Vermisste vielleicht nur ein verlängertes Wochenende angetreten oder sich verliebt habe und nun bei ihrem neuen Freund sei, versicherte die Anruferin, dass dies nicht sein könne. Ihre Arbeitskollegin sei sehr zuverlässig und hätte ihr gesagt, wenn sie am nächsten Tag nicht würde arbeiten können. Auf Nachfrage teilte die Anruferin mit, dass es sich bei der Arbeitsstelle um den Nightclub „Flow“ handele, Am Schwanenwik 31a.
Die Anruferin habe mehrfach versucht, die Vermisste über das Handy zu erreichen, was bisher misslungen sei.
Bei der Handynummer handele es sich um die Nummer 0176/233 322 78.
Sie mache sich große Sorgen, da die Vermisste Diabetikerin sei und ihr Insulinbesteck immer noch an ihrem Arbeitsplatz liege, was sehr untypisch sei. Auf die Frage nach ihren Personalien erklärte die Anruferin, diese seien unwichtig, und beendete das Gespräch.
Eine Recherche des Unterzeichners hat ergeben, dass es sich bei diesem Club um ein Edelbordell handelt und die Handynummer auf eine fiktive Personalie eingetragen ist. Ein Rückruf bei der Vermissten hat keinen Kontakt ermöglicht, obwohl das Handy aktiv geschaltet ist.
Gegen 11 Uhr rief dieselbe Anruferin (der Stimme nach) erneut an und fragte, was in der Sache schon unternommen worden sei.
Der Unterzeichner führte aus, dass das Handy auf eine Fiktivpersonalie eingetragen sei und zur Überprüfung der Schlüssigkeit ihrer Angaben die Anruferin ihre Personalien angeben müsse.
Die Gesprächsteilnehmerin hat daraufhin ihre Personalien angegeben. Danach handelt es sich um:
Lotta Kardinal
Weidenstraße 3
Hamburg
Telefon: 0176/9812209
Nora riss ihre Augen auf und unterbrach ihr Aktenstudium. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie fühlte einen intensiven Schmerz in ihrem Magen und schob ihre Unterlippe nach vorne. Während sie in ihrem Schreibstuhl erneut zusammensank und auf die Akte starrte, lösten sich einzelne Buchstaben aus dem Text und wiegten sich im Takt nach den Klängen von Chopin op. 64.2. Das melancholische, aber auch fröhliche Stück, welches Noras Opa häufig gehört hatte, begleitete sie in ein Krankenhaus, in dem sie als kleines Kind wegen eines Autounfalls gelegen hatte. Ihre ältere, neun Jahre alte Schwester Lotta trat mit einem riesigen, gelben Luftballon an Noras Krankenbett heran. Lotta schlang aber nicht – wie sonst – ihre Arme um sie, obwohl Nora ihre erwartungsvoll ausgebreitet hatte. Starr stand sie vor ihrem Krankenbett, ballte beide Hände zu Fäusten und schaute sie wütend und verzweifelt an. Dieser Blick, den niemand hätte deuten können, grub sich wie ein Brandzeichen in Noras Gedächtnis. Bis heute verstand sie nicht, warum ihre Schwester so wütend auf sie gewesen war und sich seitdem so von ihr entfernt hatte.
Ungewohnt schrilles Klingeln riss Nora aus ihren Bildern heraus.
Sie nahm den Hörer des Telefons ab und stellte sich vor: „LKA 41, Vermisstenabteilung, Kardinal.“
„Hier ist Max aus München. Nora, ich wollte hören, ob du gut angekommen bist?“
Noch wehmütig, aber auch aufgeregt, berichtete sie ihrem ehemaligen VE-Führer aus München von ihrem ersten, langen Tag in Hamburg und auch darüber, dass sie glaubte, ihre Schwester in einer Akte entdeckt zu haben.
„Stell dir vor, sie taucht hier als Anzeigende auf, in einer Vermisstensache, die ich mir zufällig gegriffen habe.“
„Es gibt keine Zufälle“, bemerkte Max und machte einen tiefen Atemzug. „Ich vermisse dich, Nora.“
Kaum ausgesprochen, bereute Siebert es bereits. Schließlich wollte er ihr das Einleben in Hamburg nicht noch schwerer machen und hatte sich fest vorgenommen, nichts zu sagen, was sie traurig machen könnte. Als er jedoch ihre Stimme gehört hatte, konnte er nicht anders und musste diesem Impuls nachgeben. Aber so war es nun. Nora musste nach Hamburg zurückkehren, weil sie die Ermittlung eines mutmaßlichen Terroristen vereitelt hatte und enttarnt worden war. Und nun hatte er in erster Linie eine Instruktion zu befolgen.
„Nora, ich muss hier für dich noch ein paar Formalitäten regeln, könnte dich dann aber besuchen kommen.“
Nora schwieg und hing ihren Gedanken nach.
„Wirst du wieder in diesen Jazzclub gehen, in dem du früher auch schon Musik gemacht hast? Wie hieß der noch, ,Birdland‘ oder so?“, fragte er.
„Am Wochenende ist Vocalsession, da werde ich wohl hingehen. Wieso? Willst du kommen?“
Sie war irritiert über das Interesse.
„Nein, nein, das werde ich wohl nicht schaffen“, lachte Siebert, während er auf das Display seines Handys tippte.
„Birdland“, Wochenende, Nora.
Er drückte auf Senden, und zwei graue Haken quittierten die Ankunft seiner Nachricht.
Ob er das