Dann hatte sie wieder die alte Geschichte ausgegraben, darüber, dass sein Vater sie einfach weggeworfen hatte wie eine leere Zigarettenschachtel. Er war Bürgermeister von Haslach gewesen und sie folglich beinahe die First Lady of Hawaii, hätte er nicht im letzten Moment kalte Füße bekommen. Aber obwohl sein Vater sie schwanger und mittellos zurückgelassen hatte und sich seine Mutter seitdem mit einem Job im Callcenter durchschlug, war Violetta zufrieden, solange sie über ihr schweres Los jammern konnte. Und jetzt hatte ihr das Schicksal auch noch einen blinden Jungen aufgebürdet.
Johnny überlegte, ob er später ein Schlafmittel nehmen sollte, damit wenigstens diese Grübeleien aufhörten. Aber zusammen mit dem Alkohol? Andererseits: Was sollte denn passieren? Er spannte den Unterkiefer an. „Jetzt gib schon den Gin her!“
Zu seiner Erleichterung kam Violetta der Forderung nach. Johnny setzte die Flasche an die Lippen, aber allein von dem Geruch wurde ihm speiübel. Was machte er da bloß? Er musste in die Firma! Bestimmt wartete dort das reinste Chaos auf ihn. Wenn er im Krankenhaus mit Babsi telefoniert hatte, hatte er nichts als freundliche Genesungswünsche aus ihr herausbekommen. Es wurde Zeit, dass er sich selbst ein Bild von der Lage machte!
In diesem Moment setzte sich seine Mutter neben ihn an den Tisch. „Junge, stell die Flasche weg“, forderte sie. „Das ist nicht gut für deine … deine Nieren.“ Anscheinend hatte sie mit den Ärzten geredet. „Du weißt, dass du in ein paar Tagen zur Nachsorge musst, und bis dahin solltest du wirklich keinen Alkohol trinken!“
Bei diesen Worten waberte der Gestank nach Vanille und Nikotin noch eindringlicher zu Johnny herüber. Seine Mutter rauchte wie ein Schlot, wenn sie nervös war. Die Tatsache, dass ihr einziges Kind, ihr Vorzeigesohn, jetzt ein Wrack war, schien an ihrem ohnehin nicht sehr stabilen Nervenkostüm zu nagen. „Und du solltest nicht so viel rauchen, schon gar nicht in der Wohnung!“ Er tastete mit der rechten Hand nach der Tischplatte und stellte die Flasche vor sich ab.
„Wenn du wieder hier eingezogen bist, wirst du dich daran gewöhnen müssen“, gab sie kühl zurück.
Johnnys Puls beschleunigte sich und er sprang hastig auf. Er konnte spüren, dass der Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, bedrohlich wackelte. „Wie bitte?“
„Na, allein kannst du wohl kaum bleiben. Und die große Wohnung in der Wiehre wird auf Dauer auch zu teuer sein, wenn du nicht mehr arbeitest.“
„Ich fahre jetzt nach Hause“, erwiderte Johnny kühl. Es kostete ihn alle Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Auch Violetta klang gereizt. „Junge! Wir müssen über deine Zukunft sprechen. Wie stellst du dir das überhaupt vor?“
„Einen Scheiß muss ich!“ Verzweifelt tastete sich Johnny an dem schmalen Bartresen entlang, um zur Wohnungstür zu gelangen.
„Rede nicht so mit mir.“ Violettas Stimme zitterte. Er hörte, dass sie aufstand, um ihm zu folgen. Ehe er an der Tür war, packten ihn ihre Finger am Arm. Sie zog ihn zu sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Zigarettenrauch stieg heiß neben seinem Gesicht auf und ihr Schluchzen dröhnte in seinen Ohren.
„Entschuldige“, presste er leise hervor.
„Bleib doch erst mal hier. Du kannst im Kinderzimmer schlafen. Musst du noch deine Sachen holen? Ich rufe dir ein Taxi, aber verabschiede dich vernünftig von deiner Mutter.“
Zögerlich legte Johnny eine Hand auf ihre Schulter. Die Vorstellung, wieder bei seiner Mutter einzuziehen, lähmte seine Gedanken viel mehr als der Schock, unter dem er noch immer stand. Aber er wusste, dass sie recht hatte: Es war, zumindest im Moment, das Beste. „Schon gut“, sagte er. „Bis später, Mutter.“
Mit diesen Worten löste er sich von ihr und tastete nach dem Türgriff. Das Metall lag angenehm kühl in seiner Handfläche. Die Wohnungstür fiel lautstark ins Schloss.
Johnny tastete sich eilig ein paar Meter an der Wand entlang, dann blieb er stehen. Endlich frische Luft. So frisch, wie die Luft im fünften Stock eines Achtzigerjahre-Plattenbaus in Haslach-Weingarten eben sein konnte. Und trotzdem war das jetzt alles, was ihm noch blieb. Seine Mutter hatte ausgesprochen, was er insgeheim schon seit seinem ersten Tag im Krankenhaus wusste – dass sein altes Leben vorbei war. Aber erst jetzt spürte er, wie ihm diese Gewissheit unerträglich langsam und beständig die Kehle zuschnürte.
Die folgenden Tage waren die Hölle: mit dem Kater und seiner Mutter eingepfercht in der viel zu kleinen Wohnung, mitten im Hochsommer. Er teilte sich das schmale Jugendbett mit dem Kater, umgeben von stummen Zeugen seiner Kindheit – Actionfiguren der Teenage Mutant Hero Turtles und Kassetten für den Walkman. Das Bett verließ er nur, um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen, obwohl er Letzteres meist auch im Bett tat. Und natürlich, um notgedrungen den Termin bei seiner charmanten Hausärztin wahrzunehmen. Jetzt schien sie allerdings nicht mehr so charmant zu sein. Sie überprüfte seine Blutwerte, die wohl nicht allzu schlecht waren, und versuchte, ihn von allerlei Therapien und Maßnahmen zu überzeugen. Aber Johnny wollte davon nichts wissen und sagte nicht viel außer: Jaja, meine Mutter kümmert sich darum.
Anfangs las Violetta ihm ständig aus medizinischen Ratgebern oder von irgendwelchen Wunderheilern vor. Sie ging allmählich dazu über, ihn wieder zu umsorgen wie ein Baby, indem sie sein Essen kochte, seine Wäsche wusch, ihm jeden Morgen den Bart trimmte und ihm die Hemden zuknöpfte. So, als wäre er dazu nicht selbst in der Lage. Es war schrecklich, aber Johnny fehlte die Kraft zum Widersprechen. Ab und zu stellte er sich sogar vor, wie es gewesen wäre, wenn er einfach noch ein paar Schlucke mehr von dem Schnaps getrunken hätte. Dann wäre ihm dieses Elend erspart geblieben.
Nur in den wenigen Stunden, wenn Violetta im Callcenter war, stand er manchmal auf und versuchte, sich allein etwas zu essen zu machen oder ihre Sammlung kleiner Parfumflakons im Setzkasten durcheinanderzubringen, um sie zu ärgern. Mehr als einmal verfluchte er sich dafür, dass er sich hatte überreden lassen, bei ihr zu wohnen, denn jetzt musste er nicht nur mit einer neuen Situation, sondern auch mit einer unbekannten Umgebung zurechtkommen. Er kannte sein eigenes Appartement in- und auswendig, aber die Wohnung seiner Mutter, in der alle Möbelstücke mit einem hartnäckigen Nikotindunst überzogen waren und sentimentale Erinnerungen in jedem Zimmer lauerten, hatte er in den letzten Jahrzehnten gemieden, so gut es ging.
Einmal verließ Johnny die Wohnung sogar. Er arbeitete sich zum Aufzug vor und schaffte es nach einer kleinen Irrfahrt durch die diversen Stockwerke des Gebäudes, im Erdgeschoss durch das Foyer zu gehen. Vor dem Haus war eine Wiese und die Sommerluft umfing ihn warm, duftend und verlockend. Das war sein erster Spaziergang ohne Begleitung seit Wochen. Am liebsten hätte er den Kater mitgenommen, der eigentlich ein Freigänger war und vom Balkon seines Appartements aus die Wiehre erkundete. Aber das wäre zu riskant gewesen.
Mit etwas Mühe fand Johnny auch den Weg zurück ins Gebäude und dann in den achten Stock. Allerdings hatte er aus Gewohnheit die Wohnungstür hinter sich zugezogen und saß an diesem Abend fast zwei Stunden auf dem Flur, bis seine Mutter wieder nach Hause kam und ihm unter Vorwürfen die Tür aufschloss.
Das waren kleine Siege, aber sie bedeuteten ihm alles. Als er es eines Abends geschafft hatte, sich eine Tiefkühllasagne aufzutauen, ohne dass sie im Backofen verkohlt war – am Tag zuvor hatte er bei dem Versuch, ohne seine Mutter zu essen, fast die Wohnung in Brand gesetzt –, überkam ihn ein seltsames Gefühl: Johnny war stolz. Stolz darauf, es allein geschafft zu haben. Er fand sogar den Flaschenöffner und machte sich entgegen allen Warnungen ein Bier auf.
In diesem Moment wusste er, dass er seine Freiheit wiederhaben wollte. Es gab da draußen noch ein Leben, das ohne ihn weiterging, und er wollte es nicht verpassen. Deshalb musste er hier weg und zurück in sein eigenes Reich. Kurzerhand