Karriere oder Jakobsweg?. Sabine Dankbar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Dankbar
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783899604146
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wir unser Auto ab. Unser Tagesziel war Willingen, wir wollten ca. 15 Kilometer zurücklegen. Wie sich herausstellte, hatten wir uns ein Osterwochenende ausgesucht, das von Nieselregen, kaltem Ostwind bis hin zu Schneeregen alles für uns bereithielt. In den höheren Lagen waren sogar noch Schneefelder vorhanden. Da ich keine Wanderausrüstung besaß, hatte ich mir kurz vorher eine warme Goretex-Hose sowie eine wasserabweisende Regenjacke zugelegt, ansonsten versuchte ich mit Skiunterwäsche, Sportklamotten und meinen Winterthermostiefeln klarzukommen. Diese kleinen Unzulänglichkeiten und der für mich völlig ungewohnte Rucksack, der zudem in keiner Gurteinstellung zu meinem Rücken passen wollte, beeinträchtigten meine gute Laune nicht. Die Wanderung war wunderschön. Wegen des schlechten Wetters begegneten wir so gut wie keiner Menschenseele, wir hatten die Wälder für uns allein. Der Wind rauschte mächtig durch die Tannen und das leere Geäst der Laubbäume. Der aufgeweichte, schlammige Boden gab unsere Schritte leise schmatzend wieder, ab und zu fiel ein Tannenzapfen zu Boden und durchbrach damit die Stille. Ja, wir waren still. Gu und ich genossen das selbstverständliche Nebeneinander, schauten uns nur hin und wieder beim Gehen an. Es war eine besondere Atmosphäre, Reden hätte nur gestört. Ganz zu Beginn unserer Wanderung führte unser Weg zur Borbergskapelle. Bis dorthin verläuft ein Kreuzweg, dessen waren wir uns vorher nicht bewusst, um so mehr freuten wir uns darüber. Es war eine meditative und besinnliche Wegstrecke, die uns beide an den vor uns liegenden Jakobsweg erinnerte. Oben angekommen machten wir eine kleine Frühstücksrast und erfreuten uns des schönen Kirchplatzes, die kleine Kapelle war leider geschlossen. Eine Familie, die dort oben ihren Osterspaziergang mit einer Eiersuche verband, schenkte uns zwei Schokoladeneier als Wegzehrung. Es war, als wenn das Pilgern schon jetzt an diesem Osterwochenende unsere Herzen auf besondere Weise erfasste. Wir passierten später die Feuereiche, übten uns an der Ginsterkopf-Klettervariante, kamen an den Bruchhauser Steinen vorbei und bogen am Richtplatz Richtung Willingen ab. Wir waren um 11 Uhr in Olsberg gestartet und erreichten mit einigen Pausen gegen 16 Uhr Willingen. Meinen Körper fühlte ich mit jeder Muskelfaser, alles tat mir weh, der Rucksack lag wie Blei auf meinem Rücken. Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche für meine müden, kalten und muskelverzerrten Glieder. Ich wähnte das von uns vorbestellte Pensionszimmer schon in unmittelbarer Nähe und sah mich von meinen körperlichen Leiden schon erlöst, als wir feststellen mussten, dass Gu in einem Vorort von Willingen das besagte Zimmer reserviert hatte. Der Vorort lag von uns aus gesehen hinter Willingen. Nur unter Anfeuerungsrufen und mit gutem Zureden schaffte ich das letzte Stück. Wir belohnten uns an diesem Abend mit einem ausgezeichneten Essen in einem sehr schönen Restaurant. Unser Fußweg dorthin war für Gu ein einziger Angriff auf seinen Lachmuskel, was ich gar nicht witzig fand. Neben Gu lief eine breitbeinige, an John Wayne erinnernde, sich schwer vorwärts bewegende, wandergeplagte Frau. Ich fragte mich, wie ich es nur jemals nach Santiago schaffen wollte. Mein Ehrgeiz aber war geweckt.

      »Der morgige Tag soll nur kommen«, dachte ich bei mir. Der zweite Tag begann nach ausgiebigem Schlaf und köstlichem Frühstück mit einem Geschenk. Unser Pensionswirt, der anscheinend schnell verstanden hatte, welcher Wanderkategorie er mich zuordnen musste, brachte uns mit dem Auto zu unserem Ausgangspunkt für diesen Tag. Ich hätte ihn umarmen können! Danach machte ich meine erste wichtige Wandererfahrung. Die ersten Schritte lassen einen noch alles spüren, mit jedem Schritt weiter vergeht der Schmerz. So erklommen wir den Langenberg, durchquerten das Naturschutzgebiet Neuer Hagen, sahen die fünfhundertjährige alte Linde in Küstelberg und kosteten aus der Quelle der Ruhr. Über die Heidenstraße gelangten wir schließlich nach Winterberg. Auf diesem letzten Abschnitt kamen wir an einem Bildstock vorbei, es war ein Bildstock zu Ehren des Apostels Jakobus des Älteren. Wir befanden uns auf einem Teilstück des Jakobsweges! Auch das hatten wir vorher nicht gelesen. Der Pilgerpfad, das war offensichtlich, rief uns und wartete auf uns! Unsere Vorfreude war mit unserer wunderbaren Osterwanderung nur noch größer geworden. Meine konditionellen Schwächen konnten mich davon auch nicht abhalten.

      Bis zu unserer Abreise mussten weitere Reisevorbereitungen getroffen werden, hauptsächlich für mich, denn wie bereits angedeutet gehörte bis dahin eine Wanderausrüstung nicht in meinen Kleiderschrank. Es fehlte wirklich alles: Rucksack, Schlafsack, Isomatte, Trinkflasche, weitere Wanderbekleidung, Regenzeug und, und, und. Wanderschuhe zu kaufen, stellte sich als die größte Schwierigkeit heraus. Es dauerte fast einen Monat passende Exemplare für mich zu finden, meine Ferse war zu schmal und hatte in den normal geschnittenen Modellen keinen festen Halt.

      Also bekam ich extra schlanke Schuhe, natürlich aus Italien, sie waren sogar ganz schick. Meine alte Profession kam mal wieder zum Vorschein. Den Rucksack tauschte ich einmal um: Zunächst hatte ich mir zu einem 55-Liter-Exemplar raten lassen, doch beim Probepacken passte nicht alles hinein. Dabei hatte ich doch schon mehrmals aussortiert und mich für meine Verhältnisse drastisch beschränkt. Dazu muss man wissen, dass ich grundsätzlich auf Reisen für alle Eventualitäten zwei bis drei Outfits mehr einpackte. Gu meinte nur: »Du musst den Rucksack fünf Wochen tragen, es ist deine Entscheidung, ob du dir einen größeren zulegst.« Ich kaufte einen 65-Liter-Rucksack, in ihn konnte ich alles verstauen und ich war mir sehr sicher, die 15 Kilo meines geplanten Gepäcks tragen zu können. Davon, dass man als Rucksackgewicht mit zehn Prozent seines Körpergewichtes rechnen sollte, erfuhr ich erst während des Pilgerns. Auch den Ratschlag meines Vaters, auf keinen Fall mehr als zehn Kilo mitzunehmen, ignorierte ich. Es musste also unbedingt das größere Exemplar sein. Später auf der Reise sah ich, dass fast nur die Männer ähnlich große Modelle wie ich trugen.

      Je näher die Abreise rückte, umso mehr freute ich mich. Ich fieberte innerlich dem Weg entgegen, auch wenn ich äußerlich verhältnismäßig ruhig war. Ich denke, es hatte aber auch damit zu tun, die Gewissheit zu haben, zunächst zu zweit zu reisen und mich nicht allein in das mir Unbekannte vorzuwagen. Außerdem war es sehr schön, die Reisevorkehrungen nicht allein, sondern zu zweit treffen zu können. Mit Gu zusammen zu planen, den Reiseführer und die Karten zu wälzen, sich den Weg auszumalen, Gedanken darüber auszutauschen, machte großen Spaß. Wir planten mit dem Auto zu unserer ersten Wanderstation zu fahren, das Auto dort zu parken, damit Gu später, nach den zwei Wochen, wieder damit zurückfahren konnte. Ich wollte dann später von Santiago aus nach Hause fliegen. Am 21. Mai, meinem 41. Geburtstag, sollte es losgehen. Wir wollten eine Nacht irgendwo in Frankreich verbringen, um dann am 22. Mai in St. Jean-Pied-de-Port anzukommen. Von dort sollte es dann am Morgen des 23. Mai zu Fuß weitergehen.

      Die Zeit bis zu unserer Abreise genoss ich sehr. Ich fühlte mich frei, unabhängig und ohne jegliche Verantwortung, außer der, die ich für mich hatte. Am Anfang fiel mir das Loslassen noch schwer. Mich plagte mein schlechtes Gewissen, wenn ich ausschlief, wenn ich mitten am Tag mit Larina oder Susanne im Café saß oder einfach nur faul die ersten Frühlingsstrahlen auf meinem Balkon auskostete, Aber dann bekam ich zunehmend mehr emotionalen Abstand zu meinem alten beruflichen Alltag. Ich brauchte keine dringenden Telefonate mehr zu führen, musste keine Entscheidungen von jetzt auf gleich treffen. Da waren keine zwei, drei oder mehr Menschen, die alle gleichzeitig etwas von mir wollten. Ich musste nicht mehr verantworten, ob wir noch mal kurzfristig Kleider produzieren sollten, weil das Wetter sich so toll entwickelte. Store-Checking war ab sofort ein Fremdwort für mich: Ich konnte in der Stadt bummeln gehen, ohne dass ich mit Argusaugen beobachtete, was unsere Mitbewerber denn gerade neu an den Handel ausgeliefert hatten. Ich fühlte mich befreit. Ich wollte aufbrechen und nicht zurückschauen. Ich hatte losgelassen, wollte mich neu einlassen und mich dem Fluss des Lebens überlassen. Die Gegenwart zu genießen, die Zukunft nicht wie sonst zu planen, das wollte ich von ganzem Herzen versuchen. Etwas Neues, Schönes, Wunderbares würde vor mir liegen, nicht nur auf dem alten Pilgerpfad, sondern auch in meinem zukünftigen Leben, dessen war ich mir ganz sicher!

      Den letzten Abend feierten wir mit Freunden – Susanne und ihrem Mann Chester sowie Larina mit ihrem Mann Nico – in meinen Geburtstag hinein und nahmen Abschied. Es ist schon ein wenig komisch, dass alle ganz sentimental werden, wenn man längere Zeit unterwegs ist und nicht den üblichen zwei- oder dreiwöchigen Urlaub antritt. Es war eine lustige, witzige, aber doch leise Atmosphäre an diesem Abend. Um Mitternacht wurde nicht nur ich beschenkt. Gu hatte für uns alle Engelkarten ausgewählt. Sie enthielten einen kleinen geschnitzten und glatt polierten Engel mit einem zum Holz passenden Text. Jeder hatte einen anderen Engel. Man spürte förmlich, wie Gu sich vorher mit jedem Einzelnen von uns auseinandergesetzt hatte, um genau den richtigen Engel auszuwählen. Ich bekam den Engel