Alles beginnt und endet im Kentucky Club. Benjamin Alire Saenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Alire Saenz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783943999143
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immer er gesessen«, sagte er. Ich nickte. »Ein guter Platz«, sagte ich.

      Ich sah mich in der Küche um und kochte Kaffee.

      Javier kam mir hinterher und setzte sich an den Küchentisch.

      »Ich glaube, ich will jetzt keinen Kaffee«, sagte er. Ich nickte. »Du solltest ein bisschen schlafen.«

      »Ich will nicht hier bleiben«, sagte er. »Es ist zu traurig.«

      »Such dir ein paar Sachen zusammen«, sagte ich. Er nickte.

      Die Fahrt zu meiner Wohnung dauerte keine fünf Minuten, aber Javier schlief, als wir ankamen. Ich half ihm die Treppe hoch, weil sein schlaffer und erschöpfter Körper ihn kaum mehr zu tragen vermochte. Er fiel ins Bett, ohne sich auszuziehen. Ich zog ihm die Schuhe aus und ließ ihn schlafen.

      Ich legte mich auf die Couch. Als ich erwachte, saß Javier mir gegenüber in meinem Lesesessel.

      Er lächelte mich an.

      »Wie spät ist es?«

      »Drei Uhr nachmittags.«

      »Wie lange sitzt du da schon?«

      »Ich bin gerade aufgestanden. Und hab Kaffee aufgesetzt.« Ich nickte. »Den kann ich jetzt gebrauchen.«

      Er zog mich von der Couch hoch und hielt mich fest.

      »Ich muss ins Beerdigungsinstitut«, sagte er.

      »Ich fahr dich hin.«

      »Nein.«

      »Dann nimm mein Auto.« Er nickte.

      Wir gingen zusammen unter die Dusche.

      Ich sah ihm beim Rasieren zu. Ich sah ihm beim Anziehen zu. Er war anmutig und elegant. Selbst die Trauer in seinem Gesicht faszinierte mich. Ich wusste nicht, wie ich dazu gekommen war, mich in ihn zu verlieben. Ich war nicht der Typ, der sich leicht verliebte. Einige meiner Freunde hatten mir zu verstehen gegeben, ich sei erschreckend selbstgenügsam. So hatte ich das nie gesehen, aber vielleicht war ja etwas dran. Doch als ich Javier jetzt beobachtete, wollte ich ihn mit aller Macht. Er sollte die Luft sein, die ich atmete.

      Als er sich die Schuhe anzog, küsste ich ihn. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Dass du ihn verloren hast.«

      Er nickte. »Er war sehr krank. Es ist gut so«, sagte er.

      »Manchmal ist der Tod etwas Gutes.«

      »Manchmal schon. Trotzdem schmerzt es.«

      »Der Schmerz gehört dazu, Carlos.«

      »Und manchmal auch die Liebe«, sagte ich.

      Ich sah den Ausdruck auf seinem Gesicht. In diesem Moment begriff ich, dass er mich liebte. Es war mir egal, dass ich diese Liebe nicht verdient hatte, dass ich sie nicht wert war. Ich begriff, dass ich diese Liebe nehmen und so lange wie möglich festhalten würde. Und mir kam der Gedanke, dass wir zusammen sein – dass wir vielleicht glücklich sein würden.

      10

      Die Trauerfeier fand in der Kathedrale statt, wo sein Onkel fünfzig Jahre lang die Messe besucht hatte. Dort hatte er seine Frau geheiratet, seine Kinder taufen lassen, in diesem heiligen Haus hatte er seinem Leben Maß und Rhythmus gegeben. Es spielte keine Rolle, dass Javier und ich nicht gläubig waren. Wie sollten wir an eine Kirche glauben, die nicht an uns glaubte – ob wir nun allein oder zusammen waren? Trotzdem gehörten die Kirche und ihre Rituale zu uns, waren ein Teil von uns. Unsere Körper – unsere Herzen – waren vertraut mit den mittelalterlichen Gesängen. In ihnen lag ein sonderbarer, ganz eigener Trost.

      Die Söhne seines Onkels saßen neben Javier in der ersten Reihe. Es waren gestandene, erfolgreiche Männer, die in anderen Städten lebten. Sie hatten etwas Strenges an sich, waren aber zivilisiert und respektvoll. »Sie sind wie meine Tante«, sagte er. »Selbst wenn sie lieben, sind sie lieblos.« Da musste ich lächeln.

      Es waren nicht viele Leute gekommen. Die meisten Gäste waren eigentlich keine Trauernden, sondern Freunde von Javier. Sie umarmten und trösteten ihn, und man konnte deutlich sehen, dass sie ihn sehr mochten.

      Am Grab schluchzte Javier wie ein kleiner Junge, ohne sich der Tränen zu schämen.

      Ich fühlte mein Herz für ihn schlagen, so wie vielleicht das Herz eines Gläubigen im Angesicht Gottes schlägt.

      11

      Javier und ich richteten uns in einer Art Routine ein. Er kam jeden Freitagabend nach der Arbeit zu mir. Wir gingen aus, schauten einen Film, hielten Händchen im dunklen Kinosaal, wir gingen essen, und wenn wir nach Hause kamen, liebten wir uns. Nach und nach fanden wir in den gemächlichen, gefühlvollen Rhythmus eines beinahe normalen Lebens. Samstags werkelten wir am Haus seines Onkels herum. Er hatte es geerbt, ohne Einwände von seinen Cousins – die weder das Geld brauchten noch irgendeinen Wert auf die Hinterlassenschaften ihres Vaters legten. Wir arbeiteten beide gern mit unseren Händen. Beide gehörten wir zu dieser Sorte Mann.

      Sonntagvormittag nahm ich mir Zeit zum Schreiben, während er las. Nachmittags lasen wir uns abwechselnd die Lieblingspassagen aus unseren Lieblingsbüchern vor. Javiers Ansichten waren immer sehr durchdacht, aber er brachte sie mit solcher Heftigkeit vor, dass ich regelmäßig lächeln musste. Mit der Zeit begriff er, was mein Lächeln bedeutete, obwohl er anfangs geglaubt hatte, ich sei einfach gönnerhaft.

      »Was bedeutet dieses Lächeln?«

      »Nichts. Ich lächle. Ich höre dir zu und lächle.«

      »Weil meine Gedanken nicht intelligent genug sind? Weil du sie amüsant findest?« Seine Stimme klang gereizt.

      »Das bedeutet mein Lächeln nun gerade nicht.«

      »Dann erklär es mir.«

      »Nein.«

      Aus irgendeinem Grund akzeptierte er das. Wir versuchten, etwas übereinander zu lernen, ohne zu viel zu erklären.

      Einer wurde des anderen Lieblingsbuch. Beide waren wir verrückt danach, den anderen zu lesen.

      Der Winter verzog sich, allerdings nicht kampflos. Er schien bleiben zu wollen, ergab sich aber schließlich dem Unabänderlichen. Veränderungen gehen mit Widerständen einher, sogar bei Jahreszeiten. Im Frühling wurde ich allmählich besessen von dem Roman, an dem ich arbeitete. Javier bekam zu lesen, was ich geschrieben hatte. Es gab nur eine Regel: keine Diskussion über den Roman.

      Eines Sonntagabends im Juli, mitten in der heißesten Zeit, waren wir beide beim Lesen. Ich las Bolaño, er Kurzgeschichten von J. G. Ballard. Ich saß in meinem Lesesessel, Javier lag auf der Couch.

      Ich legte mein Buch hin.

      »Willst du nicht hierher ziehen, Javier?«

      »Hierher?«

      »Zu mir.«

      »Willst du damit sagen, wir leben nicht zusammen?«

      »Du lebst in Juárez. Komm hierher.«

      »Ich habe keine Papiere. Das weißt du.«

      »Wir können doch den Antrag stellen. Ein Visum hast du ja schon.«

      »Nur zu Besuchszwecken. Dein Land möchte nicht, dass ich bleibe.«

      »Werd nicht spitzfindig. Und was spielt es schon für eine Rolle, was dieses Land möchte?«

      »Länder sind bedeutender als Menschen.«

      »Scheiß auf die Länder. Ich hasse sie alle. Du bist das einzige Land, das ich will.«

      Er antwortete nicht. Aber dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Du hast heute Morgen Zeitung gelesen, oder, Carlos?«

      »Es wird immer schlimmer mit den Morden.«

      »Ich bin in Sicherheit.«