Die andere Seite des Lebens
Das Leben in der Stadt war vollkommen anders. Obwohl Elmira im Staat New York nur eine Kleinstadt war, kam sie mir riesig, steril und feindlich vor. Die Menschen blieben in ihren Häusern. Man grüßte sich nicht. Doch der Verlust unserer Verbindung mit der Natur und die eisige Anonymität waren bei Weitem noch nicht das Schlimmste: Meine Mutter hatte Existenz bedrohende materielle Kämpfe auszustehen. Sie arbeitete in einer Fabrik. Ihr Job war schwierig und langweilig. Außerdem war ihr Chef hinter ihr her. Nach einem langen Arbeitstag kam sie nach Hause und weinte. Ich war ihr einziger Vertrauter. Ein Freund erzählte ihr von der Sozialhilfe. Ihre Berechnungen ergaben, dass sie damit nur wenige Dollar pro Monat verlor. Sie gab nach. Doch Sozialhilfe anzunehmen brach ihr das Rückgrat. Ihr Feuer erlosch. Und sie hörte auf zu kämpfen.
Nach ein paar Monaten heiratete sie wieder. Mein Stiefvater trank zu viel. Das machte ihn gewalttätig. Er schlug meine Mutter und auch uns Kinder. Eine Serie trostloser Umzüge in immer schäbigere Viertel folgte. Obendrein bedrohten uns ständig gefährliche Straßengangs. Zuerst zog ich mich immer mehr in mich selbst zurück und fand meinen einzigen Trost in Büchern. Doch dann schloss ich Freundschaft mit den bösen Jungs aus der Nachbarschaft. Sie waren schließlich die einzigen, die mir zeigen konnten, wie man überlebte. Wir benahmen uns wie starke, unbezwingbare Helden, die nichts umwerfen konnte. Im Inneren aber waren wir nur verängstigte Kinder. Viele meiner damaligen Freunde waren aus Heimen entlaufen, viele kamen um oder endeten im Gefängnis.
Wer die Armut verherrlicht, hat sie nicht selbst erlebt. Auf der Farm meiner Großeltern waren wir zwar auch arm gewesen. Aber an Essen hat es uns nie gefehlt. Jetzt lebten wir von der Stütze. Und das Geld war nach wenigen Tagen verbraucht. Ich lernte, was es heißt, Hunger zu leiden. Meine Mutter wurde depressiv. Oft blieb sie morgens einfach im Bett liegen, unfähig, es mit ihrem gegenwärtigen Leben aufzunehmen. Meine Eltern fochten immer erbittertere Kämpfe. Und ich gewann zunehmend das Gefühl, dass irgendetwas furchtbar falsch gelaufen war. Angst wurde mein ständiger Begleiter. Ich litt unter Magenschmerzen und saß nachts allein auf meiner Bettkante mit dem Gefühl eines tobenden Messers im Bauch. Mein Leben war außer Kontrolle geraten. Ich fürchtete, verrückt zu werden. Als ich in meine private Hölle hinabstieg, erschien es mir gleichzeitig wichtig, mich normal zu verhalten, um meinen wahren inneren Terror zu verbergen. Dabei ist meine Geschichte in keiner Weise einzigartig. Gut, es mag Millionen von Kindern geben, die dies nicht erleben mussten. Andererseits gibt es noch mehr Millionen von Kindern, die an Hunger sterben oder in Kriegsgebieten leben. Trotz unserer harten Lage fühlte ich mich damals wie jemand, der irgendwie noch glücklich davon gekommen war. Ich hatte meine Bücher. Sie gaben mir immerhin eine Perspektive. Unzähligen Menschen ging es noch weitaus schlechter als mir. Diese Zeit war hart. Aber tief in mir trug ich das Gefühl, dass das Schicksal mich für etwas Gutes ausersehen hatte. Ein Teil von mir glaubte fest daran, dass all diese Erfahrungen mir geschickt wurden, um ein stärkerer, kraftvollerer Mensch zu werden.
Meine tiefste Demütigung jener Tage war meine Freundschaft mit einem Klassenkameraden aus einem besseren Stadtviertel. Ich wollte so sehr zu seiner Welt gehören, die mir als Ausdruck von Ordnung und Normalität erschien. Seine Freunde hassten mich, aber er gehörte zu jenen wunderbaren Menschen, die andere nicht nach ihren Lebensumständen beurteilen.
Doch eines Tages fand ich in der Bibliothek eine Zeitung, auf deren Titelseite ein Leitartikel prangte, der die schrecklichen Slumbedingungen unseres Viertel beschrieb; die völlig unzureichenden sanitären Bedingungen und Fälle von Hepatitis, die bald die ganze Stadt bedrohen würden. Der Verfasser behauptete, wir lebten in Dreck und Verwahrlosung. Das Titelfoto zeigte ein völlig heruntergekommenes Haus mit einem liegengebliebenen, uralten Autowrack davor. Es war unser Haus. Es war unser Auto. Wir waren bereits damals Ausgestoßene. Doch jetzt sollte alles noch schlimmer kommen. Ich zog mich von meinem Freund zurück und mied ihn aus Scham. Ich fühlte mich so schrecklich, dass ich verschwinden, mich in Luft auflösen wollte. Dabei hatte ich gerade erst mein 14. Lebensjahr erreicht. Und mich zu einem harten kleinen, halb kriminellen Kerl entwickelt, der einen undurchdringlichen Panzer trug.
Im Schutzraum der Kirche
Dann geschah etwas Außerordentliches. Meine Mutter, der ständigen Schläge und Bedrohungen meines Stiefvaters müde, besuchte mit uns Kindern meinen Onkel. Er war der einzige Mensch, der sich nicht vor meinem Stiefvater fürchtete. Und auch auf meine mühsam aufgebaute Fassade des starken Jungen fiel er nicht herein. „Es wird immer irgendjemanden geben, der stärker ist als du. Lern auf dich selbst aufzupassen, aber begib dich nicht unnötig in Schwierigkeiten“, sagte er unbeeindruckt. Um mir dann einen sonntäglichen Kirchgang in seiner Baptistengemeinde vorzuschlagen. Eine Idee, die mir völlig blödsinnig vorkam. Aber ein Nein war nicht erlaubt. Während des Gottesdiensts spürte ich, wie plötzlich tief in mir etwas erwachte, das sich gut und sicher anfühlte. Das Gefühl wurde zur Gewissheit: Dies war der Ort, an den ich gehörte. Nach der Messe ging ich deshalb zum Pfarrer: „Ich möchte werden, was Sie sind. Ich habe keine andere Wahl.“
Er nahm mich ernst und übergab mir eine Klasse seiner Sonntagsschule, in der ich kleinen Jungen die Heilige Schrift lehren sollte. Bis dahin hatte ich noch kein einziges Wort der Bibel gelesen. Doch mein neu erwachter Glaube entflammte meine Vorstellungskraft und vermittelte mir das Gefühl, dass das Leben eine Bedeutung haben könnte.
Die folgende Zeit war wunderbar: Ich folgte dem Strom der Liebe dieser kleinen Gemeinde und widmete mein Leben meiner Liebe und dem Dienst an Gott. Erst viel später begriff ich, dass Gott Liebe ist und dass ich als Halbwüchsiger damit begonnen hatte, das Göttliche in jedem einzelnen Menschen zu erkennen. Wenn ich die Menschen durch die Augen von Christus betrachtete, verwandelte sich die Welt von einem Furcht erregenden Ort in einen Hort, den ich lieben und dem ich dienen konnte. Die Diakone wurden meine Ersatzväter, und die Religion besänftigte meine Seele. Sie brachte Ordnung in mein Leben und gab mir meine längst vergessene Freude zurück. Ich hatte eine neue Familie, in der ich nichts falsch machen konnte. Die Liebe Gottes verzieh alles. Und als Antwort darauf verströmte ich meine Liebe. Mit 18, im Herbst 1969, verließ ich meine kleine dörfliche Kirchenfamilie, um ins Priesterseminar zu gehen. Doch dort sollte ich eine herbe Enttäuschung erleben: Ich begegnete zum ersten Mal Christen, die politisch eingefärbt waren. Die Botschaft der Liebe wurde ersetzt durch eine Botschaft der Furcht, der Sünde und der Schuld. Mit diesem Druck versprachen sich die Priester einen größeren Einfluss auf ihre Gemeinden und eine höhere Opferbereitschaft ihrer Mitglieder. Ich fühlte mich getäuscht. Einsamkeit wurde zu meinem bestimmenden Lebensgefühl. Das Zölibat allein war schon schlimm genug. Der Verzicht schürte nur die Flammen des Begehrens. Insgeheim fürchtete ich, dass ich nicht lange genug leben würde um in den Armen einer Frau liegen zu können. Mit 21 begann ich schließlich um eine Frau zu werben. Ihr Name war Elizabeth. Wir heirateten und zogen in ein winziges Apartment.
Im Fegefeuer zwischen Wissenschaft und Religion
Ich begann zusätzlich Psychologie zu studieren. Doch schon bald sollten Wissenschaft und Theologie in meinem Geist einen erbitterten Krieg ausfechten. Schließlich hatte ich es satt, die Theorie der Evolution zu ignorieren, nur weil sie theologischen Glaubenssätzen widersprach. Religion und Wissenschaft schienen sich gegenseitig auszuschließen. Ich suchte nach der Freiheit neuer Perspektiven. Also stellte ich meine theologischen Seminare zurück, um das Leben aus einer stärker humanistischen Sichtweise zu betrachten. Diese Entscheidung war nicht leicht. Es bedurfte einer langen Zeit der Seelenerforschung, bevor ich wagte, meine eigene Sichtweise herauszufinden. Aber diese bewusste Wahl wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Es war nicht länger mein Traum, Priester zu werden. Nun begann ich darüber nachzudenken, was aus dem Rest meines Lebens werden sollte.
Die Würfel fürs Erste gefallen
Ich blieb bei der Psychologie. In ihr sah ich eine Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen und gleichzeitig meine eigene schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten. Zudem lernte ich nach und nach, die Polarität zwischen Wissenschaft und Religion in mein Denken zu integrieren und von dem Paradox zweier sich widersprechender Glaubenssysteme zu