»Nein, aber in den Unterlagen, die du von mir bekommen hast. Mwilima stammt aus dem Volk der Herero.«
»Wir werden es hier doch nicht mit einem Stammeskrieg zu tun haben«, murmelte Chris nachdenklich.
»Kaum, außer Professor Lorenz hätte auch eine namibische Vergangenheit.«
Lag der Stadtstreicher am Ende doch richtig? Redete er sich nicht nur ein, einen Schwarzen mit dem Opfer streiten gehört zu haben? Schmitz’ Erscheinung und sein Verhalten machten aus ihm nicht gerade einen glaubwürdigen Zeugen. Andererseits entsprachen seine nachprüfbaren Aussagen den Tatsachen. Ein Namibier als Täter in einem Doppelmord in Deutschland, das hörte sich immer weniger nach einer Routineuntersuchung an, die sie rasch nebenbei erledigen konnten.
»Richter geht durch die Decke, wenn er das hört«, grinste Sven böse, als sie ihm Caros Vermutung schilderte.
Zwei Helfer transportierten den Leichnam des Professors zum Wagen.
»Geht er in die Pathologie nach Stuttgart?«, fragte sie den Arzt, der dabei stand.
Er nickte. »Wenn es so weitergeht, können die hier bald eine Filiale eröffnen.«
Seine Einschätzung des Tathergangs, des Todeszeitpunkts und der Art der verwendeten Waffe deckte sich mit ihrer Vorstellung.
»Derselbe Täter, derselbe Dolch?«, fragte sie.
»Einiges spricht dafür, aber das zu beweisen ist Sache des Pathologen und der Technik.«
Der Rettungswagen wendete. Seine Scheinwerfer streiften die beim Schloss geparkten Autos und die hochgewachsene, schwarze Gestalt am Straßenrand.
»Hast du den Schwarzen gesehen?«, zischte Sven elektrisiert.
Sie rannten los. Der Unbekannte floh in Riesensätzen. Er steuerte auf den kleinen Parkplatz zu, doch Sven schnitt ihm den Weg ab.
»Halt, Polizei«, rief sie, »bleiben Sie stehen!«
Der Schwarze jagte mit seinen langen Beinen elegant wie eine Gazelle in Richtung Park. Er verschwand zwischen den Büschen bei der Treppe zum Neckar. Zu ihrer Überraschung rannte er weiter auf dem Pfad, der um den Rundturm herum zum Hintereingang des Schlosses führte. Sie drosselte das Tempo, um Atem zu schöpfen. Der Weg, den er einschlug, war eine Sackgasse. Sie wusste, dass das Gitter um diese Zeit geschlossen war. Der Fußweg endete dort.
»Das hat keinen Sinn. Sie kommen hier nicht weiter. Geben Sie auf!«, rief sie erst auf Deutsch, dann auf Englisch.
Sie zog die Pistole und entsicherte, während sie sich vorsichtig an der Mauer entlang dem Tor näherte. Der Flüchtige mochte sich schnell und geräuschlos durch die Nacht bewegen, doch er saß in der Falle. Einen Schritt noch, dann musste sie ihn sehen.
»Geben Sie auf«, rief sie nochmals. »Treten Sie langsam hervor mit erhobenen …«
Im nächsten Moment lag sie am Boden. Ihr wurde kurz schwarz vor den Augen. Stiche durchzuckten die rechte Schulter. Die Brust schmerzte. Sie bekam kaum Luft, als hätten sie schwere Reifen überrollt und die Lunge zerquetscht. Ächzend rappelte sie sich auf. Der Schwarze war verschwunden. Ihre ›Glock‹ auch – geladen und entsichert.
»Achtung, er hat meine Waffe!«, versuchte sie zu schreien, doch mehr als ein tonloses Flüstern gelang ihr nicht.
Sie wankte unsicher auf dem Weg zurück, den sie gekommen war. Am Fuß der kurzen Treppe hielt sie an. Sie atmete vorsichtig durch. Der Druck auf der Brust wich allmählich. Gott sei Dank schien sie nicht ernsthaft verletzt zu sein. Nur die Stiche in der Schulter sorgten weiter dafür, dass der Arm wie leblos herunterhing.
»Chris! Verdammt, was ist passiert? Wo steckt der Kerl?«
Sven stürmte die Treppe herunter auf sie zu.
»Er hat meine Waffe«, keuchte sie.
Ihr Partner stieß einen wüsten Fluch aus, bevor er ihr schmerzverzerrtes Gesicht bemerkte.
»Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Verstärkung. Über die Straße kann er nicht fliehen. Auf der Treppe zum Neckar hättest du ihn sehen müssen. Ich glaube, er versucht, auf dem Fußweg zur Haaggasse hinunter zu entwischen.«
Sie hetzte die Treppe hinauf, so schnell es ging.
»Los, komm, zum Wagen. Wir schneiden ihm den Weg ab.«
Sie dirigierte ihn die Schlossbergstraße hinunter bis zur Kreuzung, dann wieder rechts zurück zur Altstadt. Obwohl sie mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit durchs nächtliche Tübingen rasten, dauerte es zu lang, bis sie die Stelle erreichten, wo der Weg zum Schloss in die Haaggasse mündete.
»Verflucht, der ist längst weg«, schimpfte Sven.
»Er kommt nicht weit«, murmelte sie ohne Überzeugung.
Eine Streife war vom andern Ende der Stadt her Richtung Marktplatz unterwegs. Dem Flüchtigen blieb also nur der Ausweg in die Unterstadt oder wieder hoch zur Burgsteige auf der Vorderseite des Schlosses.
»Genau da rennt er hoch«, rief sie aufgeregt.
Oben am Rathaus standen drei oder vier junge Leute, die sich händeringend unterhielten und dabei immer wieder auf die Treppe zur Burgsteige zeigten.
»Lass mich raus«, sagte sie hastig. »Du fährst am besten weiter, am Marktplatz vorbei, rechts hinauf, da geht’s zum Schloss.«
»Deine Pistole …«, rief er ihr nach, doch sie jagte schon die Stufen hinauf.
Möglicherweise wohnte er im Schlosshotel und wollte dorthin zurück. Die steile, schmale Straße war menschenleer. Sie blieb unschlüssig stehen, da tauchte der Porsche unten an der Ecke auf. Sven musste den Flüchtigen bemerkt haben, denn sein Wagen brach beinahe aus, als er am Faulen Eck um die Kurve schlitterte. Der Wagen verschwand in der Gasse, die zum Holzmarkt hinunter führte. Schwer atmend hetzte sie über die groben Pflastersteine hinter ihm her. Sven wartete mit grimmiger Miene am Anfang der Gasse auf sie.
»Der verdammte Idiot rannte die Treppe hinunter zurück zum Marktplatz. Dort verschwand er rechts um die Ecke. Wo zum Teufel bleibt die Streife?«
Die Antwort kam aus dem Lautsprecher des Funkgeräts:
»Sichtkontakt. Der Verdächtige flüchtet die Lange Gasse hinunter Richtung Hafengasse. Nehmen Verfolgung auf.«
»Endlich«, seufzte Sven erleichtert.
»Freu dich nicht zu früh«, warnte sie. »Dort gibt es überall enge Seitengassen, die kein Fahrzeug passieren kann.«
»Wo will er eigentlich hin? Müsste er nicht eher über den Neckar, wenn er aus der Stadt verschwinden will?«
»Nicht unbedingt«, antwortete sie in Gedanken versunken. »Ich kann mir vorstellen, was er vorhat. Angenommen, er ist nicht in Tübingen abgestiegen, dann wird er wohl mit dem Auto hergekommen sein. Unten am Stadtgraben gibt’s ein Parkhaus. Vielleicht sollten wir dort auf ihn warten.«
Sie beschrieb ihm den Weg und gab den Verdacht über Funk weiter.
»Klein hier, wir sind in der Nähe. Gehen in Stellung.«
Sven grinste. »Polizeimeister Klein«, murmelte er, »das ist wohl eine Nummer zu groß für ihn.« Laut sprach er ins Mikrofon: »Achtung! Der Verdächtige trägt eine schussbereite Pistole. Nur unauffällig beobachten. Wir sind in fünf Minuten vor Ort.«
Kleins Streife hielt sich an die Anweisung. Als sie sich der Einfahrt zum Parkhaus näherten, war nirgends ein Streifenwagen zu entdecken. Sie fuhren ein Stück weiter, hielten an und stiegen aus. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Uniformierter neben ihnen.
»Klein«, grüßte Sven erfreut.
»Bis jetzt alles ruhig«, meldete der Polizist zackig. »Mein Partner ist im Haus. Keine verdächtige Bewegung. Ein silbergrauer Audi hat vor zwei Minuten das Parkhaus verlassen.