Am Anfang war die Information. Mit der Zeit kommt die Erkenntnis. Oder auch nicht. Am Ende bleibt ein Lächeln.
Der Schmetterlingseffekt in der Sexualität
Sie sieht ihm in die Augen, und es ist nicht nur ein Schauen. Ihr Blick umfängt den seinen, sie schmiegen sich aneinander, verflechten sich zu etwas Gemeinsamem. Noch gab es keine Berührung, und doch sind beide berührt. Sie streicheln einander, nicht nur mit den Händen, und irgendwann weiß keiner mehr, wo ein Körper aufhört und der andere beginnt.
Die Schmetterlinge im Bauch sind kein zufälliges Bild. Sicher, sie drücken das Gefühl, das jeder Mensch kennt, der schon einmal verliebt war, in seiner ganzen herrlichen Komplexität aus. Doch da ist noch mehr als das schöne Flattern im Bauch. Es gibt den Schmetterlingseffekt auch in der Sexualität. Ein Flügelschlag hier löst Tornados im gesamten Organismus aus.
Die Sexualität ist zutiefst holistisch.
Deshalb ist Sex auch so viel mehr als bloße Kopulation. Er vernetzt sowohl Organe als auch die verschiedensten Vorgänge im Körper von Mann und Frau, die man bislang nicht einmal ahnte. Körperfunktionen, Herzfunktionen, Immunfunktionen, alles ist evolutionär für den Geschlechtsverkehr perfekt eingestellt.
Die Zeugung beeinflusst wahrscheinlich nicht nur die beiden am Geschlechtsakt beteiligten Menschen, sie prägt auch das Kind. Der Holismus bezieht sich also nicht nur auf einen Organismus, sondern im Fall der Fälle auf drei. Und selbst über die drei geht er weit hinaus. Die holistischen Vernetzungen, die die Sexualität auslöst, betreffen das Mensch-Werden und das Mensch-Sein. Die Entstehung des Lebens und das Leben selbst.
Wir sprechen von einem Gesamt-Holismus, wenn es dieses Wort überhaupt geben kann. Eine über alle bislang gedachten Grenzen hinausgehende Zusammengehörigkeit der Dinge.
Die Sexualität ist das von der Natur erdachte komplexe Instrumentarium zur Fortpflanzung. Perfekt in ihren Abläufen für die Reproduktion. Großartig im Verbergen aller Anstrengungen innerhalb des Organismus, damit sie dem Menschen nicht Last, sondern Ekstase sein kann. Wenn sie bei allem, was sie an holistischem Flechtwerk zustande bringt, eine fade, mühevolle, lästige Pflicht wäre, ein Muss, das eben zu erledigen ist, dann könnte sie noch so genial sein, die Menschheit hätte längst keine Lust mehr, sich zu vermehren. Deshalb muss Sex so ziemlich der beste Zeitvertreib sein, den die Natur zu bieten hat.
Der Geschlechtsverkehr die Möglichkeit des Beginns von neuem Leben. Darauf ist alles ausgerichtet, dafür ist alles ersonnen, dahingehend hat sich alles entwickelt. Das Leben ist der Grund allen Holismus.
Der Zweck jedes Daseins ist es, auch weiterhin da zu sein. Nachkommen zu zeugen. Die Art zu erhalten. Mit den Augen der Natur besehen, ist der Sinn des Lebens die Fortpflanzung. Einzig und allein und ausschließlich. Ihr dient alles.
Die beiden wichtigsten Entscheidungen, die Lebewesen fällen, sind: Was werden wir fressen und mit wem werden wir uns paaren.
Fressen und paaren.
Das ist die Doppelspeerspitze jeder Existenz. Fressen sichert das Überleben und die Energiezufuhr und liefert damit die beiden Voraussetzungen, ohne die auch jede Reproduktion schwierig wird. Jeder Mechanismus, jeder Prozess, jede Reaktion im Körper lässt sich darauf abklopfen, was sie zur Vermehrung beitragen kann. Das gesamte System ist auf die Zukunft ausgerichtet und beim Homo sapiens grandios überhöht worden.
Die Sexualität nimmt da natürlich einen ganz hohen Stellenwert ein. Wenn nicht den höchsten. Irgendwie müssen diese Nachkommen ja entstehen. Es braucht einen Akt der Zeugung. Die Initialzündung. Den Ursprung. Das ist der Geschlechtsverkehr. Und wie die Evolution das sieht: jeder Geschlechtsverkehr. Die Evolution vergeudet keine Chancen. Sie ist immer auf alles gefasst. Auf das Große und das Ganze. Etwas Holistischeres als die Evolution gibt es nicht, und ihr Meisterstück ist die Sexualität.
Das, was man in Pornos sieht, ist genau das Gegenteil von dem, was Sexualität wirklich ausmacht. Die reine, primitive Mechanik nimmt auf den Schmetterlingseffekt keine Rücksicht. Das karnickelhafte Raus und Rein verrammelt das Tor, das Zutritt zu dem verschaffen würde, was hinter den Dingen steht. Eine faszinierende Welt gesamtheitlicher Zusammenhänge.
Dass einem die Tragweite nicht ständig bewusst ist, liegt nicht daran, dass man mitunter nur die schnelle Nummer im Sinn hat, um sie im Kalender abzuhaken. Ich will mich auch beileibe nicht dazu aufschwingen, anderen zu sagen, wie sie ihr Liebesleben zu gestalten haben und wie sie Sexualität interpretieren sollen. Das ist weder mein Interesse noch mein Wunsch. Ich bin nur Gynäkologe und Reproduktionsmediziner und als solcher mit den Dingen betraut, die recht ursprünglich mit der Sexualität und ihren Folgen zu tun haben. Den negativen wie den positiven. Ohne die Zusammenhänge im Hintergrund könnte ich kein vordergründiges Problem lösen. Mein Fach ist, so wie ich das sehe, ohne Holismus gar nicht zu bewältigen.
Es gehört also zu meinem Beruf, mich mit den Fakten zu beschäftigen, die mein Spezialgebiet betreffen, aber auch mit dem Dahinterliegenden. Mit den Geheimnissen, die sich jenseits der Sexualität auftun. Und in jüngster Zeit tut sich unendlich viel dahinter auf. Die Erkenntnisse überschlagen sich. Bekannte Abläufe bekommen ganz neue Bedeutungen. Es werden Brücken geschlagen, wo wir bisher noch nicht einmal den Brückenkopf einer Verbindung hervorlugen gesehen haben.
Es ist, als wäre der Körper eine Stadt, in der man einzelne Viertel wie seine Westentasche kennt und doch bislang das Gefühl hatte, jede dieser Taschen gehöre zu einer anderen Weste. Wie man von einem Viertel ins andere kommt, hätte man nicht sagen können, selbst wenn es ums Eck lag. Das ändert sich jetzt mit einer erstaunlichen Rasanz. Ein Verbindungsgässchen nach dem anderen wird entdeckt, die all die vielen Viertel miteinander verbinden, auch wenn man sie am entgegengesetzten Ende der Stadt vermutet hatte.
Derzeit lässt sich der Holismus offenbar sehr gern in die Westentaschen lugen. Es kommt einem fast vor, als hielte er sie dem Menschen sogar ein bisschen auf. Als lockte er ihn: Komm, schau hier herein, da hab ich noch etwas für dich, was du nicht gewusst hast, einen Zusammenhang, den du noch nicht hergestellt hast, so spielen die Dinge zusammen.
Das regt natürlich ziemlich dazu an, über den Zufall nachzugrübeln. Denn mit jeder der Erkenntnisse, die einander in der Forschung so jagen, wird die Möglichkeit des Zufalls kleiner. Dass ein so strukturiertes Spinnennetz an Verknüpfungen rein aus dem Nichts entstanden sein könnte, ist kaum mehr zu glauben.
Der Zufall wird zum unwahrscheinlichen Fall.
Doch worin bestehen sie jetzt, diese Neuigkeiten aus den Labors dieser Welt?
Versetzen wir uns einfach einmal in uns selbst. Sozusagen als Voyeure im Namen der Wissenschaft. Setzen wir uns in unser eigenes Theater. Nehmen wir Platz als Publikum auf der Galerie des Ichs. Betrachten wir das Schauspiel an Schmetterlingseffekten, das die Natur zum Zwecke der Zeugung eines neuen Menschen inszeniert hat. Schauen wir, was der Geschlechtsakt in unserem Organismus auslöst. Lassen wir uns zeigen, was es in uns Neues gibt.
Vorhang auf für die drei Akte der vernetzten Sexualität.
Erster Akt: die Blaupause.
An der Handlung beteiligt: die männliche Samenflüssigkeit, das weibliche Immunsystem.
Kurzinhalt: Die Spermien und die Samenflüssigkeit des Mannes sind Fremdkörper in der Frau, und als solche müssten sie normalerweise vom Immunsystem angegriffen und entfernt werden. Weil das im Sinne der Fortpflanzung nicht geht, gleicht sich die Frau lokal dem Immunsystem des Mannes an. Sie modelt sich um und erstellt in sich eine tolerable Blaupause von ihm.
Jeder glaubte, dass das Ejakulat des Mannes hauptsächlich Spermien beinhaltet, auch wir Mediziner. Die Medizin denkt mechanistisch. Das holistische Prinzip, demzufolge ein Organ das andere beeinflusst, ist nicht sehr verbreitet.
Man weiß schon seit Langem, dass im Sperma nicht nur Spermien enthalten sind, die nehmen nur an die 0,5 Prozent der Sache ein. Aber die restliche