Hunger haben Sie eigentlich nicht, stellen Sie fest, aber man wird ja wohl Einwände äußern dürfen, wenn man Zweifel hat, ob der Ernährungsplan wirklich ideal ist, überlegen Sie. Eine innere Stimme flüstert:
Du wirst nicht sterben, wenn du heute normal und erst morgen weniger isst. Heute ist einfach nicht der ideale Tag für dieses Programm, und wenn du den Umweg vorbei an der McDonald’s-Filiale gehst, hast du ein bisschen mehr Bewegung. Das ist doch auch wichtig, oder?
Dieses Gefühl, dieses Verlangen nach Essen, das Ihre Gedanken so manipuliert, ist keine Willensschwäche, sondern ein Symptom mit einem medizinischen Fachausdruck:
Craving.
Unter Craving (engl. Begierde, Verlangen) verstehen wir das (beinahe) unstillbare Verlangen nach einer Substanz, in unserem Fall nach Essen, genauer gesagt meistens nach fettem, süßem oder salzigem Essen.
Craving bewirkt Symptome wie einen massiven Anstieg der inneren Anspannung und oft auch körperliche Beschwerden wie Zittern oder Schwitzen.
Es ist nur logisch, dass wir unbedingt den unangenehmen Zustand, in den uns das Craving versetzt, beenden wollen. Der einfachste Weg ist es, wieder zu der Substanz zu greifen, der es geschuldet ist, möglichst süß, möglichst fett oder möglichst salzig zu essen. Kurzfristig bessert sich dadurch unser Wohlbefinden. Längerfristig schlittern wir allerdings immer weiter in unser Problem hinein.
Der Fall Sabine
Vielleicht haben Sie jetzt Zweifel. Craving beim Essen und Craving bei Heroinsucht oder Alkoholkrankheit – ist das wirklich vergleichbar? Wird da nicht etwas dramatisiert?
Schließlich ist es normal, Hunger zu haben. Die Evolution hat dem Menschen Hungergefühle gegeben, um sein Überleben zu sichern, sonst würden wir vielleicht verhungern, ohne es zu bemerken.
Und wo genau soll nun eigentlich der Unterschied zwischen Appetit, Hunger und Craving liegen? Was wollen diese Suchtmediziner von mir?
Der Auslöser für unsere Überlegungen und für unseren Entschluss, dieses Buch zu schreiben, war eine verunglückte Ratatouille.
Was ist passiert?
Die Sache ereignete sich in Südfrankreich, wo ich mich mit meiner Kollegin Marion für mehrere Wochen zur Arbeit an einem Bericht über Missstände an den neurochirurgischen Abteilungen europäischer Krankenhäuser traf. Wir hatten, um uns konzentrieren zu können, ein abgelegenes Haus gemietet und verschanzten uns dort mit Computern, Büchern und mehreren Ordnern voller Studien. An den Markttagen gingen wir ins nächste Dorf, um einzukaufen.
Wir kochten uns quer durch die südfranzösische Küche, um uns selbst wenigstens kulinarisch zu verwöhnen, wenn wir schon in der Sommerhitze arbeiten mussten. Wir kochten Muscheln mit Roséwein, Ratatouille, Fisch in Salzkruste, Crêpes mit Feigenmarmelade, Olivenkuchen, Huhn mit Fenchel, Aioli und Gemüseauflauf mit Ziegenkäse und ernährten uns sonst von Honigmelonen, Tomatensalat, Nizza-Salat und frischen Feigen.
Streber, denken Sie sich wahrscheinlich jetzt, was für superschlaue Weiber. Vielleicht kommen jetzt noch ein paar abgedroschene Tipps, um wieviel gesünder Biogemüse ist als normales, dass regionale Zutaten besser sind als eingeflogene und bla bla bla…
Und Sie sind schon knapp davor, auch dieses Buch wieder in die Ecke zu werfen oder sich einen Rücksendeschein auszudrucken. Denn Sie haben genug von den vielen Ernährungs- und Fitnessbüchern mit neumalklugen Ratschlägen, Rezepten, Übungen und vielleicht noch Bildern von gestylten Bloggerinnen, die sich im Sportdress bei Sonnenaufgang am Strand räkeln und Yoga-Übungen machen. Sie können es einfach nicht mehr hören und lesen, wie gesund Tomatensalat mit Schaf-, Ziegen- oder sonst welchem Käse ist.
Ich muss zu unserer Verteidigung sagen, dass Marion und ich diese Mahlzeiten einfach nur deshalb wählten, weil sie leicht verfügbar und unkompliziert zuzubereiten waren, und weil sie zum damaligen Zeitpunkt, mitten im Sommer, einfach am bekömmlichsten waren. Für Kalorien- oder Nährwertezählen hätten wir weder Zeit noch Lust gehabt.
Joghurt mit süßen, reifen Feigen aus dem Garten, Brombeeren, die neben der Bushaltestelle wuchsen und Trauben von den benachbarten Weingärten, das war das Allerbeste – so gut, dass sich aufwändige Zubereitungsmethoden erübrigten. Unsere intensive Arbeit, unsere täglichen kurzen Ausflüge an den Strand und unsere ausführlichen Gespräche sorgten dafür, dass wir darüber hinaus kaum ans Essen dachten.
Dass es auch Menschen gibt, die das ganz anders erleben konnten, wurde uns erst klar, als uns Sabine, eine ehemalige Kollegin, die wir beide sehr mochten, besuchte.
Sabine war etwas übergewichtig und ernährte sich daheim in Wien in erster Linie von allem, was sich liefern ließ. Wenn sie selbst kochte, musste es schnell gehen, deshalb verfügte sie immer über große Vorräte an Fertigprodukten aller Art. Sie wird glücklich sein, bei uns in Frankreich einmal etwas anderes als ihr industriell hergestelltes Zeug zu kriegen, dachte ich.
Da hatte ich mich getäuscht. Zu Beginn dachte ich noch, Sabine würde an einer leichten Verstimmung oder Reisekrankheit leiden, doch diese Symptome – vor allem ein leichter Unmut – steigerten sich binnen kurzer Zeit zu einer ständig üblen Laune, wobei sich ihre Kritik vor allem auf das Essen konzentrierte. Sabine entwickelte klassisches Craving mit allen Begleitsymptomen.
Es war Marion, die mich am dritten Tag von Sabines Besuch darauf aufmerksam machte. „Sie hat einen Entzug“, sagte sie. „Schau, wie sie ständig nach etwas Essbarem sucht. Die wirkt wie eine Drogensüchtige.“
Sabine konnte sich nie für die Feigen, Melonen, Marillen, Holzofenbaguettes, Oliven und Käsespezialitäten begeistern, die wir vom Markt mitbrachten. Sie brauchte immer etwas aus Plastikflaschen, Alubeuteln oder Konservendosen.
Ich konnte tatsächlich nicht leugnen, dass mich ihr Verhalten nun auch an unsere Patienten im Zentrum für Suchterkrankungen am Wiener Otto-Wagner-Spital erinnerte, die auf der Entzugsstation oder in der Ambulanz auf ihre Entzugsmedikation warteten. Sie waren nervös, unruhig, gereizt, schlecht gelaunt und ausschließlich auf ihren Entzug beziehungsweise ihre Entzugsmedikation fokussiert.
Marion ließ die Sache keine Ruhe. „Ist dir aufgefallen, was sie gestern zum Apero gegessen hat? Statt die Holzofenbaguettes vom Markt zu probieren, hat sie sich auf die Cracker aus dem Plastiksack gestürzt, die von den Vormietern noch da waren. Und alle aufgegessen.“
Ein richtiger Apero, die französische Version der kleinen Häppchen vor dem Essen, war das nicht mehr.
Ich dachte, Sabine würde ihre Leidenschaft für unser Essen erst noch entwickeln und würzte für sie extra intensiv. Doch es war schwierig. Egal, wie gut die Lebensmittel waren, die wir ihr servierten, Sabine schien immer auf der Suche nach etwas Verpacktem, industriell Hergestelltem, Bearbeitetem zu sein, das sie dem Essen unterrühren, dazu mischen, drüberstreuen oder notfalls extra essen konnte.
Es fing mit Dosenpfirsichen an, die sie zum Obstsalat aus Feigen, Pfirsichen, Trauben und Minze aß und reichte bis zur Mayonnaise aus der Tube, die sie zum Aperitif mit der Oliven-Tapenade kombinierte.
In einen Nizza-Salat, den Marion zubereitet hatte, einem einfachen Gericht mit Tomaten, Paprika, Zwiebel, harten Eiern, Oliven und Sardellen, kippte sie Mais und Bohnenschoten aus der Dose. Andere Salate, die wir nur mit Olivenöl und Zitronensaft anmachten, „verfeinerte“ sie mit „French-Dressing“ aus einem Fünf-Liter-Kanister.
Wir kauften Avocados, Zitronen, Knoblauch und Petersilie, um Guacamole für den Apero zuzubereiten. Sie kam uns zuvor, pürierte die Avocados und vermischte sie mit Ketchup und ebenfalls Mayonnaise. „Das schmeckt doch viel intensiver“, meinte sie dazu.
In der provenzalischen Tomatensuppe schwammen auf einmal Würstchen aus dem Glas, und unsere gefüllten Auberginen ertränkte sie in Fertig-Sahnesauce aus der Packung.
Dann