Schweizerische Demokratie. Sean Mueller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sean Mueller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783258480091
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Soziale Selektivität: Die grosse Offenheit des Milizsystems für die Rekrutierung politischer Eliten durch demokratische Wahl oder Ernennung führt nicht zu einer entsprechenden sozialen Offenheit. Vielmehr ist auf allen Ebenen eine deutliche Untervertretung unterer Bildungs- und Einkommensschichten sowie einfacher Berufsgruppen zu beobachten. Das mag mit fachlichen Anforderungen zusammenhängen, welche die Milizangehörigen eben als «Funktionseliten» prägen. Ein zweiter wichtiger Umstand kommt dazu. Die Unentgeltlichkeit oder bloss teilweise Entschädigung führt zu einer sozialen Diskriminierung, die oft übersehen wird: Arbeit für die Öffentlichkeit ohne Einkommen setzt privates Einkommen ohne Arbeit voraus. Damit erschwert das Milizsystem – je nach Stufe und Aufgabe – den Zugang unterer Schichten, von Alleinverdienenden und zum Teil auch von Selbständigerwerbenden.

      5. Rekrutierungsprobleme: Während in der kantonalen und nationalen Politik noch kein Personalmangel herrscht, scheint die Lokalpolitik von einer sinkenden Bereitschaft zum öffentlichen Engagement betroffen (Müller 2015a). Nach Befragungen von Geser et al. (2003:30 ff.) können die schweizerischen Lokalparteien zwar ihre Anhängerschaft insgesamt halten, die Zahl der aktiven Mitglieder hingegen ist deutlich zurückgegangen. Neun von zehn Lokalparteien finden es schwierig, ihre Parteiämter zu besetzen, und jede zweite beklagt einen Mangel an Kandidierenden für den Gemeinderat. Als Hauptursache dieser schleichenden Krise des Milizsystems wird in der öffentlichen Diskussion ein rückläufiges Interesse an der Lokalpolitik genannt. Dies wiederum könnte vielerorts mit der gestiegenen geografischen Mobilität der Bevölkerung zu tun haben. Dass der höhere wirtschaftliche Druck seit den 1990er-Jahren Arbeitgeber zunehmend davon abgehalten hat, Personen für öffentliche Ämter freizustellen, mag ebenfalls eine Rolle spielen. Verschärfend auf das Rekrutierungsproblem wirkt sich aus, wenn Gewählte nicht mehr so lange in ihren Ämtern verweilen wie früher (Geser et al. 2011). Eine Folge davon sind oft Gemeindefusionen.

      6. Intransparenz von Leistung und Gegenleistung: In der Nutzung ziviler Fähigkeiten der Gesellschaft durch das politische System liegt einer der Hauptvorteile des Milizsystems. Sie hat auch ihre Kehrseite. Mit der engen Verflechtung ziviler und politischer Funktionen werden auch Leistung und Gegenleistung intransparent. Wer sich für politische Ämter zur Verfügung stellt, wird Gegenleistungen erwarten, z. B. Einfluss, Prestige oder Entschädigung. Berufsmässige Politik entschädigt direkt, und als Gegenleistung zum Lohn gibt es auch Unvereinbarkeitsregeln oder Ausstandspflichten, mit denen Interessenkollisionen zwischen privaten und öffentlichen Interessen des Berufspolitikers vermieden werden. Nicht so im Milizsystem. Es gibt keine angemessene Entschädigung. Ausstandsregeln und Unvereinbarkeiten können von einer Amtsperson weniger verlangt werden, wenn sie bloss nebenberuflich für die Politik arbeitet. Mehr noch: Das Ziel des Milizsystems, die hauptberuflichen Beziehungen und Fähigkeiten der Politikerin zu nutzen, provoziert gerade Interessenkollisionen. Vom Gärtnermeister, der im Gemeinderat sitzt, wird zwar bei der Vergabe von Gärtnerarbeiten durch die Gemeinde erwartet, dass er hier besonders sorgsam zwischen dem öffentlichen und seinem persönlichen Interesse unterscheide. Dieselbe Erwartung gilt für die Parlamentarierin, die Verwaltungsratsmandate von Banken innehat und in der vorberatenden Kommission für die Revision des Bankrechts mitwirkt. Die mögliche Kollision von «privatem» und «öffentlichem» Interesse im Milizsystem verlangt von den Amtsträgern die Bereitschaft, öffentliche und private Rollen zu trennen. Die öffentliche Meinung fordert eine moralische Standfestigkeit, sich nur jene Vorteile zu verschaffen, die auch öffentlich vertretbar sind. Aber dieselbe öffentliche Meinung zeigt sich schizophren, wenn sie von Milizpolitikern die Vermischung verschiedener öffentlicher Interessen verlangt: Schickt die Wählerschaft einen Regierungsrat ins eidgenössische Parlament, so wird er nicht selten dazu aufgefordert, für den eigenen Kanton besondere Vorteile herauszuholen. Diese Situation geht über ein persönliches Dilemma hinaus, denn das Milizsystem selbst ist ambivalent. Es provoziert ungewollte Interessenkollisionen, legitime und weniger legitime Interessenverflechtungen. Statt direkter Bezahlung fördert es indirekte und oft intransparente Entschädigung von Leistungen. Die scheinbar höhere Unabhängigkeit des unbelohnten Bürgerpolitikers hat also auch ihren Preis.

      Politik findet im ständigen Informationsfluss zwischen Gesellschaft und politischen Entscheidungsträgern statt. Letztere versuchen, über die politische Kommunikation in der Öffentlichkeit Verständnis sowie Unterstützung für ihre Absichten und Handlungen zu gewinnen. In der Gesellschaft selbst formieren sich Meinungen, Tendenzen und Forderungen, die auf grössere Verbreitung und Wirkung in der Öffentlichkeit drängen. Hier liegt eine zentrale Funktion der Medien: Sie tragen Bedeutsames zur Konstituierung einer «politischen Öffentlichkeit» und zur politischen Meinungsbildung bei (Jarren/Donges 2006). Letztere findet zwar auch in der Familie, im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz statt, aber vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung und einer politischen Meinungsbildung, die vornehmlich medial vermittelt wird. Dazu gehören vor allem Selektionsleistungen: Medien wählen aus dem kontingenten Strom von Ereignissen aus, was sie für ihre Kunden als «wichtig» erachten; sie unterscheiden Rubriken von «Wirtschaft», «Gesellschaft», «Sport» oder «Politik». Die Zeitungen halten ihrer Leserschaft täglich die Handlungsstrukturen der Politik vor Augen, und zwar schon durch die blosse Gliederung in einen «Ausland-» und einen «Inlandteil», der wiederum mit «Bund», «Kantonen» und «Lokalem» etikettiert ist. Medien berichten die Ereignisse aus politischen Institutionen, die Reaktionen des Publikums, sie haben ein Sensorium für neue Entwicklungen und Trends, sie recherchieren, verbinden Ereignisse und Persönliches zu Geschichten, sie lancieren neue politische Themen oder Personen und setzen andere ab. Medien kommentieren, vermitteln Zusammenhänge und Orientierung, nehmen Partei, beeinflussen die politische Agenda oder verstärken Trends in der öffentlichen Meinung: den Bereich des Für-«bedeutsam»-, «wahr»- oder «richtig»-Haltens.

      Die schweizerischen Medien stehen wie überall in einem rasanten Strukturwandel, der von wirtschaftlicher Konzentration und technischen Veränderungen geprägt ist. Die Printmedien in der Schweiz stützten sich in der Vergangenheit auf eine Vielfalt der regional segmentierten Gesellschaft und gaben sich überwiegend parteigebunden. Von beidem ist heute kaum mehr etwas zu spüren. Die einstigen Parteizeitungen von Freisinn, Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten sind verschwunden oder zu publikumsspezifischen Blättern geworden, wobei es nach wie vor «Monopolgebiete» mit Blättern bürgerlicher Tendenz gibt. Die Pressekonzentration wirkt über Kantons- und Sprachgrenzen hinaus; in vielen Kantonen gibt es keine bedeutsamere eigenständige Presse und auch keine systematische institutionelle kantonale Berichterstattung mehr. Der einstige Verlautbarungsjournalismus, der Politikerinnen oder Behörden im Originaltext zu Worte kommen liess, hat längst journalistischer Eigenbearbeitung nach professionellen Routinen Platz gemacht (Saxer 1986). Aus diesen Veränderungen auf eine qualitativ schlechtere politische Berichterstattung zu schliessen, wäre freilich verfehlt: Ein Grossteil der Blätter weist dem politischen Teil besondere Aufmerksamkeit zu. Im Gegensatz zu den privaten TV- und Radiosendern sind die öffentlichen Anstalten von Radio und Fernsehen als öffentlicher Dienst mit einem Informationsauftrag konzipiert, der die breite und ausgewogene politische Berichterstattung einschliesst. Wie in andern Ländern sind elektronische und Printmedien heute als komplementäres System zu verstehen: Radio und Fernsehen vermitteln die Erstinformationen, die Tages- und Wochenblätter vertiefen sie. Deutschschweiz, Tessin und Romandie bilden heute kommerziell gesehen vergleichsweise kleine, sprachlich segmentierte Teilmärkte (Wuerth 1999:343–344). Dies gilt vor allem für das Fernsehen, zum Teil auch für die Printmedien.

      Das Internet mit seinen verschiedenen Anwendungen wird auch in der politischen Kommunikation immer mehr genutzt. Laut WEMF11 nutzte bereits im Jahr 2007 ein Drittel der Schweizer Bevölkerung das Internet, um tagesaktuelle Nachrichten zu lesen. Im Frühling 2015 surften 83 % der Bevölkerung ab 14 Jahren mehrmals pro Woche im Netz; davon lasen rund drei Viertel Online-Nachrichten oder besuchten die Webseiten von Zeitungen (BFS 2016c:3). Während sich die Bürger zu Zeiten der Parteiblätter überwiegend durch lokal orientierte Medien informierten, kennt das Internet keine räumliche Begrenzung, was der Homogenisierung der politischen Öffentlichkeit Vorschub leistet. Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung sind umstritten und wegen des anhaltenden Wandels des Untersuchungsgegenstandes auch schwierig einzuschätzen. Geser (1998) beispielsweise sah im Internet die Möglichkeit der Erweiterung der politischen