Schweizerische Demokratie. Sean Mueller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sean Mueller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783258480091
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öffentlichen Schulwesens wichtig war, erlaubte die Kantonsautonomie keine einseitige, hoheitliche Durchsetzung des Bundesanspruchs: Noch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in einzelnen Kantonen konfessionell getrennte Schulen. Auch die Trennung von Kirche und Staat wird bis heute kantonal unterschiedlich konsequent gehandhabt. Vor allem aber gewann die katholische Minderheit schrittweise Einfluss im Bund. 1848 blieb sie Minderheit im Parlament (National- und Ständerat), und der Freisinn besetzte während Jahrzehnten alle sieben Bundesratssitze. Nach der Einführung des fakultativen Referendums 1874 brachten die Katholisch-Konservativen allerdings zahlreiche Gesetze und Beschlüsse zu Fall. Von da an brauchte der Freisinn die Unterstützung der Konservativen, um Erfolg für bestimmte Vorlagen zu haben, und trat ihnen dafür 1891 einen ersten Bundesratssitz ab (Bolliger/Zürcher 2004). 1918 erreichten die Katholiken zusammen mit den Sozialdemokraten die Einführung des Proporz-Wahlsystems für den Nationalrat, was das Ende der Mehrheitspolitik des Freisinns bedeutete. Da von diesem Zeitpunkt an keine der Parteien mehr als ein Drittel der Sitze in der Volkskammer zu besetzen vermochte, wurde die Koalition mindestens zweier Parteien erforderlich. Freisinn und Katholisch-Konservative, die historischen politischen Gegner, verbanden sich als die beiden wichtigsten Parteien des Bürgerblocks in Regierung und Parlament gegen die politische Linke – eine Konsequenz nicht zuletzt des erwachten Klassenkampfes.

      Die Integration der Katholiken vollzog sich damit über politischen Machtgewinn, genauer: über die Teilnahme an der Macht in der Gesetzgebung, in der Regierung und später auch in den Spitzenpositionen der Verwaltung und Gerichte. Das wiederum sicherte dem katholischen Teil der Gesellschaft Einfluss, Beachtung und Erfolg. Längerfristig schwand allerdings mit der Überwindung der konfessionellen Spaltung die frühere Bedeutung des politischen Katholizismus. Durch ihre Position der Mitte zwischen den bürgerlichen und nicht bürgerlichen Lagern, welche die CVP seit 1959 suchte, konnte sie ihren politischen Erfolg lange halten und spielte dadurch gerade im Bundesrat oft das Zünglein an der Waage. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts musste die Partei jedoch einen stetigen Wählerschwund hinnehmen und verlor Ende 2003 einen ihrer beiden Bundesratssitze. Die Spaltung zwischen Laizismus und christlich-konservativen Werten äussert sich zwar auch heute noch, wie Diskussionen um Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung oder gleichgeschlechtliche Partnerschaft zeigen. Sie hat sich aber von der konfessionellen Spaltung (Katholizismus gegen Protestantismus) wegbewegt und artikuliert sich eher an Auseinandersetzungen zwischen religiösen und nicht religiösen Menschen (Linder et al. 2008:52; Geissbühler 1999; Rapp et al. 2014; Heidelberger et al. 2015:22).

      Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die Diskriminierung der Katholiken (Jesuiten- und Klosterverbot) erst nach hundert Jahren aus der Verfassung entfernt wurde. Die vergleichende Untersuchung von Lijphart (1980) über die Wahlmotive in den multikulturellen Gesellschaften der Schweiz, Belgiens, Kanadas und Südafrikas zeigt überdies, dass die konfessionelle Konfliktlinie hierzulande noch Anfang der 1970er-Jahre bedeutsamer war als der Gegensatz zwischen den Sprach- und sozialökonomischen Gruppen. Religiös-kulturelle Gegensätze, die grundlegende Werte und Einstellungen betreffen, lösen Konflikte aus, die politisch offensichtlich nicht über Nacht gelöst werden können (vgl. auch Siroky et al. 2017). Sie brauchen Zeit, um auszukühlen; unter Umständen auch längere Perioden des Nichtentscheidens, um ihr Wiederaufleben zu verhindern.

      Heute sprechen rund 71 Prozent der Wohnbevölkerung schweizerischer Nationalität Deutsch, 23 Prozent Französisch, 6 Prozent Italienisch, 0,7 Prozent Rätoromanisch und 11 Prozent eine Nichtlandessprache.8 Die gesellschaftliche Integration der Sprachminderheiten und die Verhinderung einer politischen Hegemonie der Deutschschweiz über die anderen Landesteile war die zweite bedeutende Integrationsleistung des Bundesstaats. Die sprachlich-kulturelle Spaltung und ihre Konflikte unterscheiden sich von der konfessionellen in zweierlei Hinsicht: Auf nationaler Ebene wurde sie einerseits kaum je so virulent wie der konfessionelle Konflikt in Zeiten des Kulturkampfs. Bei der Schaffung des neuen Bundesstaates 1848 stellte die Mehrsprachigkeit noch keinen zentralen Faktor für eine schweizerische Identität dar. Das Vorhandensein mehrerer Sprachen wurde von der politischen Elite kaum thematisiert. Die Tagsatzung nahm den Verfassungsartikel über die Sprachen (Art. 109 BV 1848) einstimmig an, doch sah sie in ihm mehr eine administrative Regelung denn eine symbolische Bedeutung (Widmer et al. 2004:118).

      Andererseits blieben die sprachlich-kulturellen Gegensätze in der Schweiz bis heute erhalten. Sie sind in der Gesellschaft nach wie vor erlebbar und bilden Anlass häufiger Diskussion. Zahlreiche Publikationen dokumentieren über den sogenannten «Röstigraben» hinaus die kulturellen Unterschiede zwischen Französisch- und Deutschsprachigen, das gegenseitige Auseinanderleben der Landesteile oder die wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz über die Romandie (Zürcher 2006; Büchi 2003; Kriesi et al. 1996; Du Bois 1991; Favez 1983; Knüsel 1994; Ruffieux 1983b). Die historische Analyse der Volksabstimmungen zeigt jedoch, dass die Gegensätze nach einem Höhepunkt Ende des letzten Jahrhunderts auf ein recht tiefes Niveau gefallen sind und sich thematisch wandeln (Linder/Zürcher/Bolliger 2008). Stand in den 1990er-Jahren ein zunehmender Dissens zwischen Romandie und Deutschschweiz bei Umweltfragen im Vordergrund (Trechsel 1994), so fallen heute vor allem die Differenzen in sozial- und aussenpolitischen Fragen auf.

      Für den Schutz und die Integration der sprachlich-kulturellen Minderheiten sind folgende vier Elemente bedeutsam:

      1. Sprachenfreiheit und verfassungsmässiger Schutz der vier Landessprachen: Art. 18 und 70 BV garantieren den Schutz der vier Landessprachen. Weder Kantone noch Gemeinden können gezwungen werden, ihre Amtssprache zu ändern. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind allesamt als National- und Amtssprachen definiert.9 So erscheint der Titel «Schweizerische Eidgenossenschaft» auf Banknoten und allen offiziellen Dokumenten in allen vier Sprachen. Die praktische Umsetzung der Vielsprachigkeit des Bundes findet allerdings schnell Grenzen. Anders als etwa in Kanada oder Belgien gibt es keine Pflicht des Bundes zur Übersetzung all seiner Dokumente in alle Amtssprachen. Insbesondere Übersetzungen ins Rätoromanische, das nur von etwa 42 000 Personen gesprochen wird, finden sich nur für die wichtigeren Gesetzestexte. Das in Graubünden beheimatete Rätoromanisch ist also bloss eine «Teilamtssprache». Wichtig ist der Umstand, dass nicht Volksgruppen im Sinne von ethnisch-kulturellen Minderheiten geschützt sind, sondern nur die Sprachen der im Übrigen gleichen Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet eine Absage an jede Idee eines «völkischen» Staats oder von Vorrechten einzelner Gruppen. Recht und Politik in der Schweiz wollten Multikulturalität gerade nicht durch sprachlich-ethnische Gruppenrechte sichern, sondern durch die Betonung eines allgemeinen Staatsbürgertums und einer von individuellen Grundrechten geprägten Verfassungsgesellschaft.

      2. Föderalismus: Dem Föderalismus wird oft eine bedeutende Rolle für den Schutz der Sprachminderheiten zugesprochen. Dies hält genauerer Analyse nur teilweise stand und bedarf zumindest der Präzisierung. Zwar sichert die kantonale Autonomie die kulturellen Eigenheiten der Französisch- und Italienischsprechenden – doch nur so weit, als Romands und Tessinerinnen mit ihren Kantonen auch eigene politische Herrschaftsgebiete zu bilden vermochten. Generell schützt der Föderalismus nur räumlich segmentierte Minderheiten, die auf unterer Ebene zu politischen Mehrheiten werden. Damit ist die gleichberechtigte Vielsprachigkeit zunächst nur auf Bundesebene und im Verhältnis zwischen den Kantonen geschützt. Was den Umgang mit kantonsinternen Sprachminderheiten angeht, lässt die politische Autonomie alles offen. Einzelne zweisprachige Kantone (Wallis, Freiburg und Bern) oder der dreisprachige Kanton Graubünden kennen spezielle Statute für ihre Sprachminderheiten. Im Übrigen herrscht das Prinzip der Assimilation vor: Die Kantone verlangen von anderssprachigen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie sich in den Schulen oder im Umgang mit Amtsstellen in der Sprache des Kantons bzw. der Gemeinde ausdrücken. Ein St. Galler in der Waadt wird also Französisch sprechen müssen und kann sich nicht auf die Tatsache berufen, dass Deutsch eine Landessprache ist. Damit sind die Auswirkungen des Föderalismus ambivalent. Er führt in den räumlich segmentierten Verhältnissen der Schweiz zu einem doppelten Modell: Auf Bundesebene schützt er die Gleichberechtigung der Sprachen, während er auf kantonaler Ebene der vorherrschenden Sprachmehrheit die Durchsetzung eines Assimilationsmodells durchaus erlaubt. Der Schutz von Minderheiten in gemischtsprachigen Kantonen schliesslich beruht typischerweise auf Garantien der verfassungsmässigen