Die geteilte Seele. Iris Zachenhofer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iris Zachenhofer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная психология
Год издания: 0
isbn: 9783990013588
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guten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist stabil, pflichtbewusst, belastbar, fleißig, zielstrebig, verantwortungsbewusst, zuverlässig und gewissenhaft.

      Die schlechten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist pedantisch, starr, geizig, unflexibel, zwanghaft, engstirnig, kontrollierend und stur.

      Shird musste wegen eines Notfalls in die Ambulanz zurück und ich ging inzwischen zur Dienstübergabe. Während ich unter den großen Tannenbäumen des Krankenhausparks zu unserem Pavillon schlenderte, fiel mir ein Interview mit Isabel Marant ein, das ich jüngst beim Friseur in der Vogue gelesen hatte.

      Ich hatte die französische Designerin immer für ihren Stil, ihre Kreativität und ihr Leben bewundert. Unzählige Artikel hatte ich schon davor über sie gelesen, und wenn ihre Mode auch nie meine Preisklasse gewesen war, hatte ich doch stets versucht, ihren lässigen Stil zu imitieren.

      Ich kannte Fotos der Ateliers von Isabel Marant, die voll mit Skizzen, Kleiderständern, Kleidungstücken, Stiften, Fotos, Büchern, Models und Accessoires waren. Sie hatten mich darin bestätigt, dass Kreativität nur im Chaos entstehen konnte. In jenem Interview erzählte sie allerdings, dass sie überaus strukturiert und geordnet sei, und dass sie gut rechnen und überhaupt gut mit Zahlen umgehen könne.

      Ich war überrascht. Nichts von dem, wie ich mir Isabel Marant immer vorgestellt hatte, war danach noch gültig. Jetzt wurde mir klar, dass unter ihren vier Persönlichkeiten Christopher eine tragende Rolle spielte und in ihrem der Kreativität gewidmeten Leben für Ordnung sorgte. Vielleicht machte er damit ihre Erfolge sogar erst möglich.

      Wenn Isabel Marant so einen starken Christopher hat, will ich auch einen, grübelte ich, vielleicht müsste ich mich wirklich mit ihm anfreunden, so wie es Shird vorgeschlagen hatte. Allerdings mit der netten Version von ihm. Der penible, kontrollierende und potenziell geizige Christopher fühlte sich für mich nach wie vor eher wie ein bösartiger Gehirntumor an.

      Mit einem dominanten Christopher …

      … haben wir einen ausgeprägten Wunsch nach Beständigkeit. Wir haben eine Sehnsucht nach Dauer, nach einer verlässlichen Wiederkehr des Gewohnten und Vertrauten.

      Das ist an und für sich nichts Schlechtes, auch wenn es in einer dynamischen Welt wie unserer, mit ständigen Veränderungen, so scheinen mag. Dauer und Wiederkehr der gleichen Eindrücke sind schon in unserer Kindheit wichtig für die Entwicklung unseres Gedächtnisses und für unsere Orientierung in der Welt.

      Beides gilt auch für uns als Erwachsene. Nur wenn wir so etwas wie Beständigkeit in uns selbst entwickeln, können wir mit den laufenden Veränderungen und dem Chaos des Lebendigen umgehen und es einordnen.

      Wenn unser innerer Christopher aber zu dominant ist, dann ist unsere Sehnsucht nach Dauer und damit nach Sicherheit zu stark ausgeprägt. Wir haben dann Angst vor Veränderungen. Wir wollen dann immer alles beim Alten belassen und halten eisern an Gewohnheiten und Grundsätzen fest. Wir sind skeptisch gegenüber allem Neuen. Wir sind besonders vorsichtig und handeln vorausblickend.

      Das macht uns dann einerseits zu genauen Planern, andererseits wollen wir aus Angst vor Veränderungen immer die Oberhand gewinnen. Wir wollen so viel wie möglich von unserer Umgebung kontrollieren und alles in Schemata und Regeln zwängen. Wir würden unseren Mitmenschen am liebsten vorschreiben, wie sie zu sein haben, statt uns darauf einzulassen, wie sie nun einmal sind.

      Wir neigen mit einem dominanten inneren Christopher dazu, Selbstbeherrschung und Kontrolle zu idealisieren und unsere Aggressionen äußern sich häufig in übermäßiger Korrektheit oder pedantischer Ordentlichkeit. Durch unseren ständigen Drang, uns zusammennehmen zu müssen und unsere ständige Selbstkontrolle entwickeln wir mit einem dominanten Christopher auch besonders leicht hypochondrische Symptome.

      In der Liebe kennen wir uns mit einem dominanten Christopher nicht wirklich aus, denn das Irrationale ist für uns beunruhigend. Wir versuchen, uns in einer Beziehung an Vereinbarungen zu halten, doch wirklich sicher fühlen wir uns nur, wenn wir diejenigen sind, die alle Entscheidungen treffen.

      Von unseren Partnern verlangen wir, sich auf genau die Art von Beziehung einzulassen, die wir uns vorstellen. Gleichzeitig erleben wir Beziehungen oft als schicksalhaft und können uns gar nicht vorstellen, dass sie einmal enden könnten.

      Mit einem besonders schwach ausgeprägten Christopher …

      … haben wir Probleme damit, uns zu organisieren und eine gewisse Konstanz im Leben zu entwickeln und zu erhalten. Wir verlieren oft den Überblick, denn so wie unsere schnelllebige, sich ständig verändernde Welt Anpassungsfähigkeit und Flexibilität verlangt, verlangt sie auch die Fähigkeit, Ordnung und Stetigkeit zu bewahren. Mit einem schwach entwickelten Christopher überfordern uns diese ständigen Veränderungen schnell, Stress und Burnout sind nicht selten die Folge.

      Partner und Freunde sind häufig die Leidtragenden. Allzu oft vergessen wir Geburtstage oder sagen ein Treffen im letzten Moment ab, weil wir den Überblick über unsere Termine und Verpflichtungen verloren haben. Insbesondere für den Partner ist es schwer, uns als verlässlich wahrzunehmen, worunter häufig einer der wichtigsten Bausteine einer Beziehung leidet, das Vertrauen.

      Im Beruf kann es häufig zu Fehlern kommen, besonders in stressigeren Zeiten. Wir verlegen Akten, vergessen wichtige E-Mails und Termine, machen das, was im Volksmund als Schlampigkeitsfehler bezeichnet wird.

      Mit einem schwachen Christopher leben wir häufig einfach in den Tag hinein, machen uns wenig Gedanken über Verpflichtungen gegenüber uns und anderen Menschen. Dies kann eine Zeit lang durchaus ein entspannter Zugang zum Leben sein, bis sich unsere Verpflichtungen so weit aufgetürmt haben, dass sie auf uns herabstürzen und uns zu erdrücken erscheinen.

      Während vor mir die Bettenstation in Sichtweite kam, suchte ich Namen für die drei anderen Persönlichkeiten, die wir in uns vereinten. Sie sollten inspiriert von Menschen sein, die ich kannte, und bei denen die jeweilige Persönlichkeit klar dominant war.

      Diese mit Christopher dann insgesamt vier Namen würden es mir leichter machen, mich mit den hinter ihnen stehenden Persönlichkeiten zu beschäftigen. Von einer quasi medizinischen, psychiatrischen Auseinandersetzung mit mir selbst, den Menschen in meiner Umgebung und meinen künftigen Patientinnen und Patienten würde das Ganze zu einem kleinen Spiel mit großer Wirkung werden.

      Wie sollte ich die von der Wissenschaft so trocken und abfällig als »schizoid«, »depressiv« und »hysteriform« eingestuften Persönlichkeiten nennen?

      SOPHIE

      Der Dienst verlief zum Glück ruhig, weshalb ich mich schon am späten Nachmittag mit einer Gymnastikmatte aus dem Physiotherapieraum auf dem Flachdach unseres Pavillons in die Sonne legen konnte. Aus Sicherheitsgründen war es streng verboten, das Dach zu betreten, und ich musste dafür durch das Fenster unseres Dienstzimmers klettern, aber UV-Strahlung erhöht bekanntlich den Spiegel des Glückshormons Serotonin im Gehirn, was wiederum gut für meine Leistung im Job war. Ich fand das relevanter als pingelige Vorschriften.

      Während ich überlegte, meine Sonnencreme und die mit Wasser gefüllte Sprühflasche aus dem Dienstzimmer zu holen, läutete mein Telefon. Eine ehemalige Kollegin von der Neurochirurgie, Sophie, war dran. Sie beschwerte sich, dass sie gerade Nachtdienst gehabt hätte und trotzdem den ganzen Tag in der Klinik bleiben musste, weil eine Patientin bei einer nächtlichen Operation verstorben war. »Konnte die nicht warten, bis sie in der Intensivstation liegt?«, schimpfte sie.

      Auch wenn Sophie schrecklich empathielos war, hatte sie recht. Ich hatte es selbst oft genug erlebt. Tote am OP-Tisch machen Probleme. Für Neurochirurgen in unserem System war es besser, wenn sie erst nach einer Operation starben. Starben sie während der Operation, bedeutete das jede Menge Erhebungen und Bürokratie.

      »Sie hatte wegen der Verletzungen von ihrem Autounfall sowieso keine Chance mehr«, sagte Sophie, »aber wir konnten sie natürlich nicht einfach liegen lassen. Du weißt ja, wie es ist. Jetzt habe ich sie alle am Hals, den Chef, den Anästhesie-Chef, den Gerichtsmediziner, und ich muss sinnlose Protokolle schreiben.«

      Dass