Abschiedliche Bildung vermag auch neue Formen des eigenen Lebens und Zusammenlebens zu stärken. Statt Aufbruch, Aktion und Verstehen könnten Vertiefung, Reflexion und Spüren zu Orientierungsmarken dieser restbiografischen Neubestimmung werden. Diese »findet« nicht weiter die Erklärungen, denen sie schon stets zugeneigt war, sondern verharrt bewusster in einem »Suchen«, welches ihr dazu verhilft, auch in dem bislang Fremden eigene – neue – Möglichkeiten des Menschseins zu entdecken – eines Menschseins, das aus der Fassung gerät, um sich neu zu (er)fassen, wobei es sich »des Ortes, der den Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit bildet« (Scharmer 2009, S. 29) genauestens bewusst bleibt und sich darum bemüht, aus den »tieferen, mehr schöpferischen Schichten des sozialen Feldes« (ebd., S. 31) heraus restbiografisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dabei kann Neues entstehen – ein »ontologisches Unding«, wie Niklas Luhmann sagt:
»Etwas ist, obwohl, ja weil es alles nicht ist, was bisher war.« (Luhmann 1995, S. 323)
Können und sollten wir noch Neues aus uns heraus entstehen lassen, oder wollen wir bleiben, wer wir schon geworden sind – immer weiter mehr im Aufbruch als im Abschied lebend? Und: Warum »sollten« wir unser Restleben ändern? – Nicht im Sinne einer »weltfluchtfähigen Existenz« (Sloterdijk 2009, S. 695), sondern um uns zu erheben aus der Trance, in der wir auf einen Zustand zu torkeln, der unser alltägliches Denken, Fühlen und Handeln dereinst dementieren wird. »Ändere dein Leben!«, ruft Peter Sloterdijk seinen Lesern und Leserinnen im Blick auf die drohende globale Katastrophe zu. Und er fügt hinzu:
»Andernfalls wird früher oder später die vollständige Enthüllung euch demonstrieren, was ihr in der Zeit der Vorzeichen versäumt habt!« (ebd., S. 702)
Doch droht uns dieses Versäumnis nur in Anbetracht der globalen Entwicklung? Droht nicht jedem Menschen eine solche »globale Katastrohe«, die nicht die Welt, wohl aber seine Lebenswelt untergehen lässt? Wie können wir angesichts dieser Gewissheit weiterleben, teilhaben, gestalten und entwickeln – vom Totenbett her gar noch Weichen stellend?
»Hier geht es ja um alles, was mich jetzt ausmacht!« – so die Reaktion einer Teilnehmerin in einem Seminar über abschiedliche Bildung. »Insbesondere der Satz, dass die eigene Persönlichkeitsentwicklung nur um den Preis des Todes zu haben sei, hat mich schwer getroffen. Dieser Satz stimmt in einer Tiefe, die sich nicht dem ersten Gedanken erschließt. Wenn ich nur werden kann, wer ich zu sein vermag, weil ich mich damit von den anderen, nicht unbegrenzt bereitstehenden Möglichkeiten abgrenze, dann stellt uns dies ja vor eine völlig neue Situation: Das vergehende Leben ist dann nicht mehr bloß ›das Schwinden von Optionen‹, sondern ›die Nutzung von Optionen‹. Indem ich diese aufgreife, gestalte oder verwerfe, werde ich, wer ich sein kann. Es ist die Verknappung der Optionen im Lebensverlauf, die uns profiliert, d. h., uns Sinn und Identität stiftet! Ich muss gestehen: Seit ich diesen Zusammenhang erkannt und durchspürt habe, lebe ich vorsichtiger und bewusster im Blick auf die Sanduhr meines Lebens!«
Erste Etüde: Am Berg |
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Die folgende Übung lädt zu einer restbiografischen Reflexion ein, indem sie uns mit der Frage nach unserer Position »am Berg« konfrontiert. Damit ist durchaus Unterschiedliches gemeint: Es kann der Berg unseres Lebens sein, bei dem wir bereits die Hälfte hinter uns haben oder nur noch wenige Meter bis zum Gipfel hinter uns zu bringen haben. Gemeint sein kann aber auch die tägliche Sisyphosaufgabe. Entscheiden Sie selbst! Lassen Sie sich inspirieren! |
Stellen Sie sich folgende Fragen: •An welcher Stelle befinden Sie sich auf dem Berg des Sisyphos? •Wie viele Male sind Sie hier schon raufgestiegen? •Was entgleitet Ihnen – kaum angekommen – immer wieder? •Hat sich Ihre Wandertechnik verändert? •Welchen Identitätsmantel tragen Sie derzeit? •Wie oft haben Sie diesen gewechselt? •Welches Gepäck haben Sie dabei? •Hängen an Ihrem Rucksack auch »die drei Siebe des Sokrates«? •Wann kamen diese zum Einsatz? |
Versuchen Sie, Ihre Antworten auf diese Fragen in einem Bild »Ich: am Berg« zu visualisieren. Besprechen Sie dieses Bild mit einer Person Ihres Vertrauens! Beraten Sie sich mit ihr auch zu den Fragen: •Könnte ich meine Technik des Aufsteigens ändern? •Könnte ich mehr über die Topografie des Geländes in Erfahrung bringen? •Wer kann seine Erfahrungen mit mir teilen? •Sollte ich einen anderen Berg besteigen? •Was verspreche ich mir vom Bergwechsel? •Könnte ich meine Ausrüstung optimieren? •Kann ich mir Zeit lassen, gar eine Auszeit nehmen? •Kann ich lernen zu wandern, ohne zu stöhnen? •Welches Wanderlied stiftet mir Energie und gute Laune? •Sollte ich in Begleitung gehen (mit wem)? •usw. |
2 Die galaktische Einsamkeit
Wer über sein verbleibendes Leben nachdenkt und versucht, die noch vor ihm liegenden Jahre bewusst(er) zu gestalten, der kommt nicht an der Frage vorbei, was Menschsein eigentlich bedeutet (vgl. Wittwer 2014). Diese Frage lauert hinter jeder substanzielleren Suchbewegung. Sie führt uns auf einen schmalen, aber stark begangenen Grad. Auf dessen einen Seite verweisen die nur vernünftig abklärbaren, aber letztlich unbegreiflichen Dimensionen des Menschseins auf uns selbst. Sie lassen uns in der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt« (Camus 1967, S. 123) suchend, aber orientierungslos. Wir staunen über die Fragen, die wir aufzuwerfen vermögen, lauschen tief bewegt den sprachlichen Inszenierungen im intellektuellen, literarischen und wissenschaftlichen Angebot der Jahrhunderte und bleiben doch letztlich selbst sprachlos zurück, wenn wir zu durchschauen beginnen, dass alle diese Angebote bloß den Überheblichkeiten einer anthropischen Zentrierung entspringen. Dieser zufolge haben sich das menschliche Denken und Suchen zwar seit Kopernikus kosmisch dezentriert, indem die Menschen erkennen mussten, dass sie nicht das Zentrum oder gar das Maß aller Dinge sind. In ihrem Denken jedoch folgen sie weiterhin einer anthropozentrischen Erkenntnisweise, die mit den Bestecken zu Werke geht, die nur dem Menschen zur Verfügung stehen. Diese Bestecke sind:
•das vernünftig-rational schlussfolgernde Denken und Verstehen,
•die Sprache als Form der Symbolisierung und Überlieferung von Bedeutungen,
•das Sprechen als Möglichkeit, Wissen zu teilen, sich zu einigen, zu verabreden und gemeinsam zu handeln, sowie
•die Schrift als Modus der Verewigung und Überlieferung von Einsichten und Denkformen.
Diese Bestecke sind dauernd in Anwendung. Durch ihren Gebrauch entstehen eine »unermüdliche Aufklärung« und ein »endloser Text«, die unser Bewusstsein immer wieder neu einbetten:
»Ich spreche nicht mehr selber, sondern die Welt benutzt mich als Medium, um sich zu artikulieren. Sie spricht unaufhörlich zu mir, durch mich zu anderen und durch die anderen zu mir.« (Zielinski 2011, S. 39)
Auf der anderen Seite lauern die seichten Deutungen von Aberglauben, Formelhaftigkeit, Esoterik oder Verdrängung, die das Anthropozentrische ihrer Erklärungen gedankenlos ausblenden. Diese verursachen ein Stimmengewirr – doch auch bloß für die Wesen, die Ohren haben, um zu hören, und Augen, um zu lesen. Die Stimmen liefern uns zwar Antworten, können diese aber nicht beweiskräftig und wirklich tragfähig belegen. Zudem grenzen sie aus, indem sie unterscheiden zwischen denen, die der Bewegung folgen, und denen, die dies nicht tun. Das vorliegende Buch bevorzugt die vernünftige Reflexion eines philosophischen »Was können wir wissen?« und meidet die seichten Gewässer. Es ist dennoch nicht der Versuch, den überlieferten philosophischen Positionen eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr ist seine Absicht eine lebenspraktische – zunächst ausgehend von dem Staunen über die Lage, in der wir uns eigentlich befinden, ganz unabhängig davon, ob wir uns noch im Aufbruch befinden oder bereits beim Schreiben der letzten Kapitel unserer Restbiografie angekommen