Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo Baer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Baer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная психология
Год издания: 0
isbn: 9783934933453
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wie der Weg dazwischen aussehen könnte.

       Nachdem ihr diese beiden Entscheidungen getroffen habt, erzähle ich euch, wozu ich euch im weiteren anleiten möchte. Ich werde euch bitten, eure musikalische Lebensgeschichte durchzugehen, diesmal als Weg durch den Raum. Ich werde euch begleiten, indem ich immer wieder Lebensabschnitte nennen werde, um euch Anhaltspunkte zu geben. Wenn euch das gerade zu schnell oder zu langsam geht, wenn euch andere Zeiteinteilungen sinnvoller erscheinen, dann nehmt euch ernster als meine Anregungen. Für euren Weg durch die musikalische Lebensgeschichte bitte ich euch, immer wieder euren Einfällen, Empfindungen, Gefühlen und Gedanken Aufmerksamkeit zu schenken.

       Bevor ihr vom Ausgangspunkt losgeht, sucht euch einen Platz, der zeitlich und örtlich davor liegt … Was war vor dem Beginn deiner musikalischen Lebensgeschichte? Was haben deine Vorfahren mitgebracht? … Welche musikalischen Traditionen gab es in deiner Familie? … Was wurde dir in die Wiege gelegt?

       Geht nun in eurer Art und in eurem Tempo in eure Kindheit hinein, in die ersten Abschnitte eurer musikalischen Lebensgeschichte. Folgt euren Einfällen, der Weg wird sich von allein entwickeln …Was fällt euch ein zu euren ersten Lebensjahren? Oder was habt ihr von anderen über euch gehört? Habt ihr viel geschrieen oder eher wenig? Wart ihr laut oder eher still, unruhig oder ruhig, temperamentvoll oder eher zurückhaltend? … Was fällt euch ein zum Kindergartenalter? … zur Schule … zur Pubertät … zum Erwachsenwerden … zum Erwachsensein … zum Singen … zum Musikhören … zum Musikspielen … zu heute … ?

       Wenn ihr am Ort des Hier und Jetzt eurer musikalischen Lebensgeschichte angekommen seid, haltet dort inne. Überprüft, ob dieser Platz jetzt stimmt. Wenn ja, dann bleibt dort, wenn nicht, sucht euch einen anderen Ort, der jetzt angemessen ist.

       Sucht und findet an diesem Platz eine Haltung im Stehen, Sitzen oder Liegen, in der ihr gut in euch hineinhören könnt.

       Schließt, wenn ihr mögt, die Augen, atmet gut und lasst das, was ihr vorhin erlebt habt, noch einmal wie in einem Musikfilm in euch ablaufen. Hört der Musik, die den Film eurer musikalischen Lebensgeschichte begleitet, gut zu.“ 10 Minuten Zeit lassen!

       „Welche Szene, welche Musik steht jetzt im Vordergrund eures Hörens und Erlebens? Was bewegt euch am meisten? Schenkt dieser Szene und dieser Musik eure ganze Aufmerksamkeit …

       Wie geht es euch jetzt? Was erlebt ihr nun? Musiziert es so, dass sich das Bewegendste aus der Filmmusik zu eurer Lebensgeschichte in einer Ouvertüre, einem musikalischen Schlüsselthema oder einer musikalischen Schlüsselszene verdichtet.“

      Ein Mann kommt in die Therapie, „irgendwie ärgerlich“, den Zorn aber kaum spürend, nur „mit angezogener Handbremse“. „Es grummelt in mir. Aber ich weiß nicht, worüber. Seit zwei Tagen komme ich mir wie in einem Käfig vor, wie ein Tier im Zoo, das hin und her läuft. Und ich weiß nicht, warum.“ Der Therapeut fragt, aus welchen Zeiten er sich so kenne, wann er sich so schon einmal erlebt habe.

      „Das passiert mir öfters, aber meistens nur kurz, es kommt und geht wieder. So stark wie jetzt kenne ich das nur aus meiner Jugendzeit. Da bin ich auch in meinem Zimmer immer hin und her gelaufen, war ärgerlich und fühlte mich gefangen.“

      „Welche Musikstücke haben Sie damals gehört? Oder haben Sie selbst Musik gespielt?“

      „Gespielt habe ich leider nicht, aber gehört habe ich viel, zumeist Rock und Blues und auch ein bisschen Jazz. Meistens im Radio beim britischen Soldatensender BFBS. Davon habe ich mir die besten Sachen auf einem Tonbandgerät aufgenommen. Einen Schallplattenspieler hatten wir nicht.“

      „Welche Musik haben Sie gehört, wenn Sie so hin und her tigerten und mit angezogener Handbremse ärgerlich waren?“

      „Alles Mögliche. Aber am besten hat mir ‚Paint it black’ von den Stones gefallen“, sagt er und dabei beginnt sein Gesicht freudig zu strahlen, „das hat mir richtig gut getan. Ich habe den Text damals nicht verstanden, aber mir immer vorgestellt, dass ‚Paint it black’ bedeutet, alles um mich herum schwarz zu malen, den ganzen Kitsch schwarz anzustreichen, die spießige Unehrlichkeit schwarz anzustreichen, das Duckmäusertum. Die Stones haben für mich ihren Ärger und ihren Zorn herausgeschrieen.“

      „Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie sich daran erinnern und davon erzählen?“

      „Oh, jetzt merke ich wieder meinen Zorn. Ich höre die Nummer der Stones innerlich. Sie finden die Worte und die Musik für meinen Zorn. Und ich weiß jetzt auch, was mich zur Zeit zornig macht: Ich hasse diese feigen Hunde an meinem Arbeitsplatz. Immer, wenn ich mal den Mund aufmache, lassen die mich im Regen stehen …“ Er erzählt und erzählt, ärgerlich, aufgeregt, zornig, klar und deutlich – nichts mehr ist von dem Diffusen, von der angezogenen Handbremse zu sehen und zu hören, mit der er in die Therapie gekommen war. Er gestikuliert und seine Beine zucken. Der Therapeut bittet den Klienten aufzustehen, während er erzählt. Er tut es gerne und läuft hin und her. Auch sein körperlicher Ausdruck wird freier.

      Was war passiert? In einer konkreten Situation kam der Klient nicht weiter. Er steckte in seinem Erleben fest. Durch den Rückgriff auf die musikalische Biografie gelang es ihm, aus der Sackgasse herauszukommen und seine Lebendigkeit wieder zu entdecken. In der musikalischen Biografie sind nicht nur Probleme enthalten, sondern auch Lösungen. In der musikalischen Biografie stecken zahlreiche Ressourcen, die aktiviert und genutzt werden können, indem KlientInnen zurückhören.

      In einer musiktherapeutischen Ausbildungsgruppe hatten die TeilnehmerInnen zu einem bestimmten Thema ein kleines Musikstück erarbeitet. Eine Teilnehmerin steht anschließend vor der Gruppe und will das, was sie entwickelt hat, vorspielen. Sie zögert, setzt an, wird blass, bricht ab.

      „Ich kann nicht.“

      „Was erlebst du gerade?“, fragt der Seminarleiter.

      „Ich werde ganz starr, wie gelähmt. Ich schwitze.“

      „Wovor hast du Angst?“

      „Ich weiß nicht genau … Das hängt irgendwie mit dem Vorspielen zusammen. Und dass die anderen zuhören und mir zuschauen.“

      „Kennst du das irgendwo her – du spielst vor und wirst starr?“

      „Ja, vom Musikstudium. Wenn ich da vorspielen musste, war das furchtbar. Ja, das ist es. Das hier ist jetzt genauso wie damals.“

      „Erzähl doch mal, wie das damals war.“

      „An eine Situation erinnere ich mich besonders. Ich sollte vorspielen und die Herrschaften saßen da in Reih und Glied vor mir. Und während ich spielte, unterhielten die sich. Machten Bemerkungen, schrieben sich was auf. Ich kam mir total blöd vor, als würde sich keiner für mich und meine Musik interessieren.“

      Was war geschehen? Die Situation, vor einer Gruppe etwas vorzuspielen, mobilisierte das Leibgedächtnis (s. Kap. 21.2.4). Eine Szene aus der musikalischen Biografie entstand in der Gegenwart neu. Das Erleben der alten Szene überlagerte das mögliche Erleben in der neuen Situation.

      Wenn wir in der Therapie vermuten, dass eine vergangene Situation die gegenwärtige beeinflusst, bitten wir, die vergangene Situation so konkret wie möglich als Szene zu beschreiben. Zu einer Szene können verschiedene Aspekte gehören, die wir bei Bedarf erfragen.

      Zum Beispiel:

       „Wer war anwesend?“ bzw.: „Wer war nicht da?“

       „Wie sah der Raum aus?“

       „Wie spät war es?“

       „Wo hast du gestanden? Gesessen? Wie genau?“

       „Was hast du gehört? Gesehen? Gerochen?“

       „Wie