„Das klingt alles so unwirklich. Seeker, die Energiefelder anderer Menschen lesen. Berufe und Aufgaben, die man angelegten Gaben nach erfüllt. Felder, die sich verdichten. Als wäre es real, als hättet ihr all das tatsächlich durchschaut?!“
Ihre Verunsicherung war nicht zu übersehen und Ajan fragte sich kurz, wie weit ihre Furcht gehen würde. Daran entschied sich nicht selten, ob mögliche Kandidaten zu einem Leben auf Share bereit wären. Er musste abwarten und verfolgen, wohin ihre nächsten Schritte sie führen würden. Doch dabei durfte er sie nicht beeinflussen. Auch wenn er sich insgeheim wünschte, Claire würde sich am besten schon morgen dafür entscheiden, ihn zu begleiten.
„Für die jungen Sharer war es immer ganz real“, bemühte er sich um eine sachliche Erklärung. „Wir erlernen die menschlichen Fertigkeiten von Kindheit an und vor jedem anderen Wissen: zum Beispiel unsere Gefühle zu steuern – das Drüsen, wie wir es nennen –, oder die Sprache des Körpers, die vielen Wesenszüge des Charakters, dann geistige Fähigkeiten, Techniken, um uns zu fokussieren, zu lernen oder schöpferisch tätig zu sein, unsere Stimme zu stärken und sie gekonnt zu benutzen, uns in vielen Sprachen auszudrücken, Gespräche zu führen oder Reden zu halten. Und später dann noch eine Reihe anderer, höherer Fähigkeiten, die mit dem Seelen einhergehen, wie Gedanken oder Gefühle lesen oder hellsichtig sein. Erst ab dem zehnten Lebensjahr wird der Lehrplan durch einzelne Wissensfächer ergänzt. Die Grundfertigkeiten des Schreibens, Lesens und Rechnens werden natürlich auch von Kindheit an geschult, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden eher nebenbei, als Selbstverständlichkeit, absolviert. Bis zum zwölften Lebensjahr hat jeder unserer jungen Sharer ausreichend Zeit gefunden, um seine Interessen, Anlagen und Begabungen dadurch genau kennenzulernen. Mit all dem wachsen wir auf.“ Er überlegte kurz und sagte dann abschließend: „Für uns ist es nicht anders, als ein Brot zu brechen oder einen Stein aufzuheben.“
Claire konnte nicht umhin: Dieser Mann wurde ihr mit jedem Wort unheimlicher. Zugleich jedoch fühlte sie sich auch immer stärker zu ihm hingezogen.
Das junge Paar, das an einem der Tische hinter ihnen gesessen war, hatte sich mittlerweile schon lange auf den Weg gemacht. Die Kellner räumten die Tische ab, begannen sie an der Wand vor dem Lokal zu stapeln und die Stühle mit Ketten zu sichern. Einer der Kellner brachte die Rechnung zu ihnen an den Tisch und während Ajan diese beglich – nicht ohne zuvor Claires Zustimmung eingeholt zu haben –, spürte sie einen Moment ihren Empfindungen nach. Sie nahm eine gewisse Erleichterung wahr, dass ihr Gespräch sich nun langsam doch dem Ende zuneigen würde. Sie brauchte Zeit, um all das zu verdauen. Auch wenn sie fühlte, dass sie nicht gern von Ajans Seite weichen wollte.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie unsicher.
„Das hängt ganz von dir ab.“
„Nur von mir? Interessiert es dich denn nicht?“ Ich mache mir zu viele Hoffnungen.
Ajan musste achtgeben, sie nicht weiter am zarten Band der Liebe, das sich zwischen ihnen gesponnen hatte, an sich zu ziehen oder gar zu binden. Nur aus der Anbindung an das eigene Feld, das jenseits von Sehnsüchten, Wünschen und Hoffnungen lag, konnte man erkennen, welcher der möglichen, nächsten Schritte der richtige war. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, musste abweisender sein, als ihm lieb war.
„Es liegt allein bei dir, da es um dein Leben geht. Solltest du erwägen, mich auf die Insel zu begleiten, zieht das viele Konsequenzen nach sich. Wer auch immer Zeit in der Kolonie verbringt, will nicht mehr von dort weg. Und man muss sich zur Geheimhaltung verpflichten, um unsere Gemeinschaft nach besten Kräften zu schützen. Es würde dein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Und das darf nicht davon abhängen, ob auch ich mir wünsche, dass du an meiner Seite gehst.“
„Tust du es denn?“
Er blickte sie unverwandt an und schwieg.
Etwas resigniert sagte sie:
„Das geht mir alles viel zu schnell.“
„Das verstehe ich. Darum trennen wir uns jetzt.“ Claire wollte widersprechen, doch er setzte nach: „Und du musst ohnehin noch die letzte Prüfung bestehen.“
„Was heißt das nun wieder? Hast du mich denn geprüft? Wenn ja, ist mir nichts davon aufgefallen.“ Sie sah ihn beinah erschrocken an. „War denn unser ganzes Gespräch nur eine Prüfung?“ Sie fühlte sich gekränkt.
„Ja und nein. Darüber musst du dir selbst klar werden. Wie auch immer, ich muss jetzt gehen.“ Er hatte sich schon erhoben, war zwei Schritte auf die Straße getreten und blickte nun zögernd in den Himmel. Ohne sie anzusehen, sagte er:
„Bis morgen Abend werden drei Zufälle dir den Weg weisen und deine Entscheidung beeinflussen. Der dritte davon wird sein, dass wir beide uns irgendwo in der Stadt wieder begegnen.“
„Drei Zufälle?“
Er wandte sich ihr zu. „Zeichen, Fügungen, synchrone Ereignisse des Schicksals, nenn es, wie du willst.“
„Und weiter?“
„Nichts weiter. Bis dahin wirst du alles wissen. Und vor allem, ob du mich tatsächlich begleiten willst. In ein neues Leben.“ Er kam etwas näher, hob ein wenig die Hand, als wollte er ihr über die Wange streichen, unterließ es aber, lächelte kurz und verschwand mit zügigen Schritten in der Nacht.
Claire konnte sich lange kaum rühren. Seltsam verzaubert saß sie auf ihrem Sessel und blickte zu den Sternen hoch.
Einer der Kellner hatte ihr, bevor er die letzten Lichter gelöscht hatte, gedeutet, dass sie noch eine Weile bleiben könnte. Dann war auch er verschwunden.
Nun war sie ganz allein in der dunklen Straße, mitten in der fremden Stadt, die, den Worten ihres Vaters nach, zu den gefährlichsten Krisenherden der Welt zählte.
Paris schien ihr weiter entfernt denn je, die Gespräche am Vortag, mit den beiden Männern in ihrem Leben, eine Ewigkeit her.
Sie spürte dem lauen Wind nach, der durch die Nacht zog und an Ajans Stelle über ihre Wangen strich.
Sie wartete. Darauf, dass ihr Verstand Alarm schlug oder sich Angst einstellen würde.
Doch das geschah nicht. Obwohl sie nichts von all dem, womit das Schicksal sie an diesem Abend konfrontiert hatte, zuordnen konnte – angefangen beim Tod des Mädchens bis hin zu Ajans drei Zufällen – hatte in ihrem Inneren eine stille Gewissheit begonnen, Form anzunehmen. Ihr war, als wäre sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Punkt angelangt, der ihrer Bestimmung entsprach.
Und die kritische Journalistin in ihr schwieg dazu ebenso wie ihr Herz, das ihr, wider jede Vernunft, an einen fremden, unheimlichen Mann verloren schien.
Claire holte ihr Neopad aus einer der Westentaschen, schaltete es ein und hoffte, dass es sich in das hiesige Netz einloggen würde. Die meisten Sendemasten im Stadtgebiet, so hatte sie an der Rezeption ihres Hotels erfahren, waren ausgefallen. Nur an wenigen Stellen bekam man eine Verbindung. Sie hatte Glück, überflog die eingegangenen Nachrichten – darunter eine ihres Vaters, voll von Vorwürfen und übertriebenen Sorgen sowie eine weitere von Jerome, die sich nicht wesentlich von der des Vaters unterschied –, öffnete die Navigations-App und gab die Adresse ihres Hotels ein.
In ihrem Zimmer angekommen, suchte sie im Netz noch nach Share, doch fanden sich tatsächlich keinerlei Hinweise oder Berichte über eine Insel im Atlantik mit diesem Namen. Zu erschöpft, um die Nachrichten der beiden Männer zu beantworten, wusch sie sich in dem engen Bad, verzichtete darauf, die Dusche hinter dem Plastikvorhang zu testen, tapste über die Marmorfließen bis zum antiken Himmelbett und schlief, begleitet vom leisen Rasseln alter Federkerne, schnell ein.
9
Claire