In der inzwischen nicht mehr aktuellen Diskussion zum Verhältnis von Theorie und Praxis im Sinne eines Transfers (Dewe, 2012; Eugster, 2000) wurde Professionalität in einen direkten Zusammenhang mit Profession gesetzt. Dieser Zusammenhang war unter der strukturellen Perspektive, nach welcher der Sozialen Arbeit höchstens der Rang einer Semiprofession zukommt, insofern kritisch, als die Professionalisierbarkeit dieses Berufes, dem es an Autonomie und großen Entscheidungsspielräumen mangelt, als fraglich angesehen wurde (Heiner, 2004). Nach der handlungstheoretischen Perspektive von Schütze (1992) steht das kompetente, an berufsethischen Standards ausgerichtete Handeln der Professionellen im Sinne der zu erreichenden Wirkungen im Zentrum. Unter dieser Optik ist sehr wohl Professionalität denkbar und Professionalisierung eine mögliche anzustrebende Größe. Als professionelles Handeln wird dabei in der neueren Diskussion vor allem die Fähigkeit verstanden, wissenschaftlich fundiert in einer komplexen, von Heterogenität geprägten Praxis und unter Unsicherheit lösungsorientiert zu handeln (Heiner, 2004).
Die Anwendung wissenschaftlichen Wissens in der Praxis hat dabei im Laufe der Zeit eine Veränderung erfahren. Während zu Beginn von »Transfer« des wissenschaftlichen Wissens in die Praxis gesprochen wurde, ging die Fachwelt später dazu über, die »Transformation« von Wissen zur Nutzung in der Praxis zu betonen. Dies hat schließlich zum Begriff der »Relationierung« von unterschiedlichen Wissenstypen geführt (von Spiegel, 2008, S. 58). Unter Relationierung wird dabei verstanden, dass wissenschaftliches Wissen von in der Praxis Tätigen selektiv aufgenommen, auf die konkrete Problemstellung hin interpretiert wird und schließlich mit beruflichem Erfahrungswissen verschmilzt und sich so zu einem neuen Typ von Wissen wandelt, dem Professionswissen (Dewe, 2012).
Das Grundproblem bei der Relationierung von theoretischem und praktischem Wissen ist die Unterschiedlichkeit von Wissenschaft und Praxis, die je eigenen Gesetzmäßigkeiten und Logiken folgen und von daher inkompatibel sind. Während die Wissenschaft der Wahrheitsfindung dient und dabei einem Begründungszwang unterliegt, sind die Referenzkriterien der Praxis Wirksamkeit und Handlungszwang (von Spiegel, 2008). Vor diesem Hintergrund sind die regelmäßig konstatierten Enttäuschungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über die Unfähigkeit der Praktikerinnen und Praktiker, sich an das in der Ausbildung vermittelte Wissen zu erinnern und es im Berufsalltag bewusst und nutzbringend anzuwenden, ein Resultat falscher Prämissen und Erwartungen. Andererseits entkräftet diese Diagnose nicht den Vorwurf von Staub-Bernasconi (1998, S. 47), wenn sie kritisiert:
»Ersetzt wird [Fachwissen] durch mehr oder weniger hilflose, voluntaristisch-moralische Kategorien, durch Fragen nach der richtigen Gesinnung und Hilfe-Moral oder nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, durch Gehorsam gegenüber Dienstvorschriften, Zweck und Strukturregeln der Organisation.«
Diese den beiden Systemen immanenten Widersprüche können durch Dialog und Koproduktion überschritten werden, indem durch Lernprozesse neue Einsichten und Wissen erworben werden und in gemeinsamen Diskursen ein geteiltes Verständnis entwickelt wird. Der Prozess der Koproduktion verändert alle daran Beteiligten und ist kein einseitiger Akt der Vermittlung von Wissen oder Know-how oder die Übernahme von Handlungsanleitungen. Eine Schwierigkeit, die es dabei anzugehen gilt, ist die, dass wissenschaftliches Wissen auf Abstrahierungen und Verallgemeinerung ausgerichtet ist, wobei einmalige Abweichungen vom generalisierten »Ideal« vernachlässigt werden. Die Praxis dagegen hat es ausschließlich mit individuellen, einmaligen Sachverhalten zu tun, die sich nicht unter die theoretisch »geglätteten« Ideale subsumieren lassen, ohne Komplexität zu reduzieren oder ihren Wesenskern zu verfremden. Ein Weg, mit dieser als Polarität erfahrbaren Realität umzugehen, besteht darin, sich auf die Position der Polarisierung zu versteifen und die Unvereinbarkeit der beiden Seiten zu proklamieren oder zu beklagen, dass »die anderen« nicht zur Lösung der Probleme im eigenen Terrain taugen. Relationierung dagegen bedeutet, sich annähernd, prüfend, suchend auf den Weg ins andere Feld zu machen, ohne das Eigene aufzugeben oder billig zu verkaufen. Es bedeutet, über Qualität, Preis und Nutzen zu verhandeln, ohne das Ziel aus dem Auge zu verlieren. Es beinhaltet das kontextsensible Wechseln der Perspektiven zwischen dem eigenen Standpunkt und dem des anderen. Es ist ein Auskalibrieren der jeweiligen Systeme hin zu einem neuen eigenen, das verbindend zwischen den Ursprungssystemen steht.
Was bedeutet dies aber konkret? Wie kann diese Relationierung gestaltet werden? Das von uns entwickelte Modell versucht, darauf theoretische und praktische Antworten zu geben. Das Grundanliegen des Buches ist es, einen konkreten Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, wie mannigfaltige Wissensformen aus Praxis und Wissenschaft in verschiedensten Situationen innerhalb der Sozialen Arbeit, bei denen eine Herausforderung professionell gestaltet werden soll, fruchtbar gemacht werden können. Es geht uns um eine ganzheitliche Sicht der Integration von Wissen und Kompetenzen hin zu einer professionellen Identität. Unser bescheidener Anteil auf diesem Weg ist die Entwicklung eines Modells, anhand dessen Studierende und Professionelle der Sozialen Arbeit in systematisch festgelegten Arbeitsschritten reflektieren. Studierende werden dabei von Dozierenden oder Ausbildenden in der Praxis begleitet. Sie tun dies in kleinen Gruppen, die als Communities of Practice (Lave & Wenger, 1991) konzipiert sind. Die Arbeitsschritte des Reflexionsprozesses sind aufgrund lerntheoretischer Erkenntnisse gestaltet. Wir zeigen, was wir unter professioneller Reflexion verstehen und wie Reflexionsprozesse durch ihren Fokus auf handelnde Subjekte die Entwicklung von professionellen Identitäten und somit von Professionalität fördern.
Dabei kann es vorkommen, dass eine Gruppe eine überraschende Lernerfahrung macht, indem sie entdeckt, dass ihre Handlung in der reflektierten Situation nicht dem Wissen und den Qualitätsansprüchen professioneller Praxis entspricht. Diese Offenheit ist ein wichtiger Grundsatz, den unsere Studierenden erfahren zu lassen wir bestrebt sind. Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist der, dass das Wesen der Sozialen Arbeit von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt ist. Früher wurden diese als nicht auflösbare Polaritäten, ja sogar als Paradoxien betrachtet, wie etwa das »doppelte Mandat« der Interessenvertretung der Klientinnen und Klienten einerseits und der Erfüllung eines gesellschaftlichen Auftrags andererseits (Böhnisch & Lösch, 1973, S. 27–29) Inzwischen spricht man eher von einer »doppelten Loyalität« (Heiner, 2004, S. 21), von Spannungsfeldern oder sogar vom »Spiel von Kontrolle und Akzeptanz«, vom »Spiel von Macht und Respekt« (Thiersch, 2004, S. 11).
Unser Reflexionsmodell wird zwar durch klar definierte Arbeitsschritte strukturiert, die inhaltliche Füllung aber ist flexibel, indem Deutungen reflexiv erschlossen und diskursiv ausgehandelt werden. Dieses »Aushandeln von Bedeutung« (»negotiation of meaning«), wie Lave und Wenger (1991) es nennen, das in der CoP stattfindet, stellt gleichzeitig ein Übungsfeld dessen dar, was von Professionellen erwartet wird und woran sich ihre Professionalität misst: gemeinsam mit ihren Klientinnen und Klienten Deutungen ihrer Situation, ihrer Problemlage zu finden und ein sinnhaftes Bild zu erzeugen, das die Professionellen befähigt, die Widersprüchlichkeiten, Begrenzungen und Nöte ihrer Klientinnen und Klienten anzuerkennen und gleichzeitig ihre Stärken und Ressourcen erschließen