Der hochbegabte mathematische Physiker Walter Thirring, der solche Berechnungen selbst vornahm, vertraute mir an, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schöpfers, hinter dessen Saum wir zu blicken versuchen, größer ist als das Auffinden einer Weltformel mit nicht nachprüfbarer Rechenakrobatik.
Trotzdem rümpft man beim Glauben die Nase. Er habe im Haus der Wissenschaft keinen Zutritt.
Mittlerweile hat die theoretische Physik aber selbst ein Glaubensproblem. Ein oft gehörter Vorwurf: Ihr habt den Kontakt zur Empirie verloren. Ihr steht nur mehr an der Tafel und liebt eure eigenen Formeln.
2013 veröffentlichte der englische Wissenschaftsautor Jim Baggott in seinem Buch Farewell to Reality die Entwicklungen der Stringtheorie und der Quantenkosmologie und nahm sie kritisch unter die Lupe. Die Physik sei zu weit gegangen.
Märchen-Physik, nannte er sie, die »Verrat an der Wahrheit« verübe und »an der Grenze zur Vertrauenserschwindelei« liege.
Der berühmte Kosmologe Robert Brandenberger begann kürzlich seinen Vortrag bei einem Treffen in der kanadischen University of Western Ontario mit den Worten: »Ich denke, um das Universum wirklich zu verstehen, benötigen wir die Hilfe der Philosophie.« Eigentlich könnte man hier nachfragen: Warum nicht auch die Hilfe der Theologie?
Physik wird selbst zur Metaphysik. Und jeder ist sich selbst der Beste.
Wissenschaft und
Glaube im Gleichklang
So verhärtet waren die Fronten zwischen Forschung und Spiritualität übrigens nicht immer. Im Gegenteil, die Geschichte hat viele erfolgreiche Wechselbeziehungen gezeigt.
Nikolaus von Kues, auch Nikolaus Cusanus genannt, zum Beispiel. Vermutlich das größte Wissenschaftsgenie des ausgehenden Mittelalters und Vertreter einer Richtung, deren Namensgebung heute an manchen Ecken eine Schnappatmung auslöst: Mathematische Theologie.
Kues war Forscher und Denker, darüber hinaus päpstlicher Legat in Deutschland und später Kurienkardinal in Rom. Er schob die Mathematik hautnah an die Theologie heran und wandte mathematische Symbole auf sie an. Abzulesen an seiner Abhandlung De quadratura circuli. Die Quadratur des Kreises. Die Konstruktion eines Quadrats mit dem identen Flächeninhalt wie ein vorgegebener Kreis. Eine, wie wir seit dem Beweis durch den Mathematiker Ferdinand von Lindemann wissen, unlösbare Aufgabe, wenn wir sie allein mit Lineal und Zirkel ausführen wollen. Und darüber hinaus eine Metapher für das Unmögliche.
Erstaunlich auch Kues’ Reflexionen, die ihn aus der Geometrie unmittelbar in die Theologie führen. Gott hat, da war er sich sicher, zweierlei geschaffen: das Nichts und den Punkt. Der Punkt als extremes Gegenteil des unendlich Großen. Als geometrische Figur. Aus ihm fließe die Linie. Analog dazu das Viele, also die Zahlen. Sie lägen so nahe beieinander, dass kaum eine Grenze bestehe. Der Punkt als das geschaffene Eine, in dem die Entfaltung des Universums stattgefunden habe. Einmal das Nichts. Einmal die absolute Unendlichkeit. Ein Paradoxon, das Kues in seiner Radskizze im Pilgertraktat veranschaulicht hat.
Kommt einem bekannt und hochaktuell vor: der Punkt als die Quelle der Kraft. Für nichts anderes stehen heute Singularitäten wie Urknall und Schwarzes Loch.
Auch zum Thema blinde Wissensgläubigkeit gab Kues den Menschen etwas mit auf die Reise. So erzählt er in Idiota de sapientia, zu Deutsch: Der Laie über die Weisheit, von einem schlichten Mann, der auf dem Marktplatz einem gut situierten, geübten Redner entgegenhält:
»Du lässt dich von den Ansichten der Tradition führen wie ein Pferd, das zwar frei geboren, aber mit einem Halfter an eine Krippe gebunden ist, wo es nichts anderes frisst, als was ihm dargeboten wird.«
Es ist eben nicht immer alles so, wie es gemeinhin dargestellt scheint. Siehe Nikolaus Kopernikus. Er war Astronom, Arzt und Domherr in Preußen. Bekanntlich hat er, als Folge eines Aktes aus Schauen und mystischer Erkenntnis, das heliozentrische Weltbild beschrieben, demzufolge die Erde als Planet die Sonne umkreist. Die Kirche stand deswegen nicht mit ihm auf Kriegsfuß.
Oder Galileo Galilei. Sein Leben und Wirken schloss unmittelbar an jenes Kopernikus’ an. Bis heute wird mit unbeirrbarer Sturheit behauptet, Galilei wäre einzig und allein durch die Inquisition verfolgt worden, weil er ketzerische Ansichten verbreitete. Eine Legendenbildung, die ihn zum Säulenheiligen für das gestörte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion gemacht hat. Einer historischen Prüfung hält das Bild nicht stand.
Galileo war in Wirklichkeit tiefreligiös. In erster Linie wurde er Opfer des eigenen Hochmuts. Er provozierte den Neid der Kollegen, teilte mit ihnen weder Forschungsergebnisse noch moderne Gerätschaft, zu der er Zugang hatte. Beispielsweise die Fernrohre, die er haufenweise aus Holland importierte und mit sattem Gewinn verkaufte.
So verweigerte er Johannes Kepler eines der begehrten Teleskope, verschickte sie aber zugleich an politische Größen in halb Europa, die damit kaum mehr anzufangen wussten als ein bisschen Sterneschauen. Kepler kam erst voran, als der Herzog von Bayern ihm seines lieh. Ein andermal teilte Galilei seine Kenntnisse Kepler als Buchstabenrätsel mit – im Wissen, er würde es nicht lösen können. So macht man sich Feinde. Galilei reklamierte den Ruhm vieler Entdeckungen für sich und posaunte sie hinaus, auch wenn sie überaltert waren.
Seine Egozentrik reichte so weit, dass er in sich überhaupt den Einzigen sah, der irgendetwas Neues entdeckte. Seinem Anhänger Orazio Grassi, Astronom, Mathematiker, Architekt und Jesuit, der unter dem Pseudonym Sarsi publizierte, schrieb er: »Sie können daran nichts ändern, Herr Sarsi, dass es mir alleine gegeben wurde, alle die neuen Phänomene am Himmel zu entdecken und niemandem sonst. Das ist die Wahrheit, die weder Böswilligkeit noch Neid unterdrücken kann.«
Die andere Wahrheit ist: Galileo hat sehr viel entdeckt, noch viel mehr aber nicht. Weder Trägheitsgesetz noch die Parallelogramme zu Kraft und Bewegung noch die Entdeckung der Sonnenflecken gehen auf seine Kappe. Den Beweis für Kopernikus’ Weltbild erbrachte nicht er. Ebenso wenig erfand er Mikroskop, Teleskop, Pendeluhr und Thermometer. Auch die Fallbeschleunigung, die manchen als g = 9,81 m/s2 bekannt ist, ermittelte er nicht auf empirischem Weg. Die Gewichte, die er dafür vom Schiefen Turm von Pisa warf, fielen nur in der Fantasie seines Schülers und Biografen Vincenco Viviani. Die Genauigkeit damaliger Uhren hätte dafür nicht ansatzweise ausgereicht. Das Gedankenexperiment allerdings, Geschwindigkeit wachse beim Fall mit dem Quadrat der Zeit, machte er sehr wohl.
Sogar sein berühmtester Ausspruch, den man ihm bis heute zuschreibt, stammt nicht von ihm. Den er im Trotz gemurmelt haben soll, als das Gericht der römischen Inquisition ihn in der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom zum Abschwören der Lehre zwang, die Erde drehe sich um die eigene Achse. Diese Worte: »Und sie bewegt sich doch!« Nicht ein schriftlicher Beleg existiert dafür. Der Satz wurde ihm vielmehr in den Mund gelegt, postum in der Zeit der Aufklärung.
Nichtsdestotrotz waren Galileis Leistungen enorm. Weil er die moderne Wissenschaft der Dynamik begründete, die Jupitermonde entdeckte, den Nachweis des Gewichts der Luft führte und vieles mehr. Alles war der handwerklich hochbegabte Universalgelehrte aus Arcetri bei Florenz in einem: Bahnbrecher. Märtyrer. Zerrissener Held. Opfer des Dogmas, Glaube und Forschung würden einander ausschließen, war er nicht.
Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte, wie auch in einer kontroversen Abhandlung über Galilei zu lesen ist: »… in theologischen Werken erscheint er als ein Störenfried, während die rationalistische Mythographie ihn als Jungfrau von Orleans der Naturwissenschaften oder als St. Georg hinstellt, der den Drachen der Inquisition erschlug.« Dazu wurde er von jenen Akteuren gemacht, deren Anliegen es ist, Wissenschaft und Glauben als unvereinbar darzustellen. Dafür verwendeten sie Testimonials wie