Um halb vier Uhr packte ich den Ordner mit meinen Recherchen ein und machte eine letzte Kontrollrunde im Aufwachraum. Mit der U-Bahn und der Straßenbahn brauchte ich fast eine Stunde bis zum SOS-Kinderheim in Strebersdorf. Ich ging zwischen Buschenschanken und Weinkellern zum Südeingang des Heims, vor dem ein Typ mit Camouflage-Jacke eine Zigarette rauchte und dabei nervös über sein Smartphone wischte. Das musste Axel sein. Als er mich bemerkte, zog er einen Schlüsselbund aus seiner Jacke und öffnete die Stahltür. »Georg Neumann?«, fragte er und musterte mich wie ein Grenzwachebeamter einen Kleinwagen mit rumänischen Gastarbeitern. »Garstner hat gut über Sie gesprochen.«
»Garstner ist mein Assistent. Wir kennen uns seit fast sechs Jahren«, sagte ich.
Axel zuckte mit den Schultern, dann schnippte er die Zigarette auf den Gehsteig und öffnete das Tor.
Das Pflegeheim bestand aus einem großen, beigefarbenen Hauptgebäude und einer Reihe von Bungalows, in denen die zehnjährigen und älteren Kinder lebten. In der Mitte des Geländes lag ein Spielplatz mit einer Baumhütte, von der Strickleitern und Seile hingen. »Haben Sie das Geld?«, fragte Axel und strich mit der Zunge über seine rissigen Lippen.
Ich zog die fünf grünen Scheine aus der Brusttasche und gab sie dem Pfleger.
»Für mich ist Ihre Anwesenheit ein Risiko«, sagte Axel. »Ich könnte den Job verlieren.« Er lächelte angestrengt.
Für meine Begriffe reagierte Axel überzogen, auch wenn der Fall für das Heim zweifellos unangenehm war. Seit Hannas und Manuels Namen in der Öffentlichkeit zirkulierten, berichteten die Zeitungen regelmäßig über das Mädchen. Anfang des Monats prangte ein Bild von der Kleinen auf dem Cover eines Boulevard-Blattes, acht Monate alt mit schwarzen Haaren, aber es war ein Fake gewesen, wie sich nach einigen Tagen herausgestellt hatte. Die Zeitung hatte ein falsches Foto gehabt.
Ich folgte Axel ins Hauptgebäude. In der Babystation verteilten die Betreuer gerade die Milchfläschchen. Es roch nach Desinfektionsmittel und säuerlichem Babyschweiß. Mich wunderte, dass niemand die Fenster öffnete. Vor den einzelnen Zimmern lagen Berge von Schmutzwäsche. Kinder lagen in ihren Gitterbetten und quengelten.
Axel winkte ins Schwesternzimmer, schlüpfte aus seiner Jacke und begleitete mich in den hinteren Teil der Station. Dort waren die drei- bis sechsjährigen Kinder untergebracht. Vier von ihnen saßen in abgetragenen Sportsachen in einem Aufenthaltsraum und tranken heiße Milch. Sie musterten mich wie einen Außerirdischen. Axel bedeutete mir, mich zu beeilen.
Er führte mich in ein Zimmer mit einem Gitterbett, einem Schrank und einem Waschbecken mit einer Ablage zum Windelwechseln. In dem Bett lag ein kleines Mädchen. Neben dem Bett saß eine junge Frau mit starker Akne und blätterte in einer Illustrierten. Sie verließ unaufgefordert das Zimmer, als Axel einen Stuhl für mich heranzog.
Ohne Platz zu nehmen, beugte ich mich über die Kleine. Kein Zweifel, ich hatte sie schon einmal gesehen. Ich kannte ihre breite, nach oben gekrümmte Nase, die wulstigen, an den Winkeln leicht eingerissenen Lippen und das runde Kinn. Ein Kloß bildete sich in meinem Magen, und ich atmete zweimal tief durch.
»Zufrieden?«, fragte Axel und ließ sich selbst auf den Stuhl fallen.
»Nein«, antwortete ich.
»Nein?« Axel lachte verlegen und kratzte sich mit seinen Wurstfingern am Kinn.
»Ich brauche Fotos von der Kleinen.«
Axel machte große Augen. »Fotos? Kommt nicht infrage. Ich habe es Garstner erklärt. Wenn die irgendwo auftauchen, ist es klar, woher sie stammen.«
»Ich brauche die Fotos trotzdem.«
Axel strich über seine rasierte Glatze. Seine Augen wurden groß, und etwas Unbestimmtes flackerte darin, als ich mein Handy nahm und die Kamera anklickte.
Axel baute sich vor mir auf. »So geht das nicht«, sagte er.
»Warum gehen Sie nicht für drei Minuten auf die Toilette? Wenn Sie zurückkommen, werde ich auf dem Stuhl sitzen und nichts wird passiert sein.«
»Und wenn ich bleibe?« Axel machte einen Schritt auf mich zu.
»Ich möchte mit den Bildern einer alten Frau eine Freude machen«, sagte ich.
Axel kniff die Augen zusammen.
Ich zog einen weiteren Hunderter aus meinem Sakko.
»Drei Minuten«, sagte Axel. »Machen Sie keinen Scheiß, sonst sind Sie dran.«
Anfang April, 2015
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»Wer sind Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen. Kommen Sie, ich habe Ihnen nichts getan.«
Stille.
»Sie sehen mich nicht einmal an. Wie alt sind Sie? 22? 23? Hat Ihnen Brandner verboten, mit mir zu sprechen?«
Keine Antwort. Nur das monotone Klicken des Aufzugs bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifuhr.
»Hören Sie, ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Wo ist Dr. Brandner, Nikolaus Brandner? Wo ist mein Kind? Meine Tochter. Ich suche meine Tochter.«
Der Aufzug ruckelte. Erdgeschoss, 1. Stock. Hanna zog sich am Seitengitter ihres Bettes hoch und blickte in das Gesicht des Mannes. Spitze Nase. Pferdeschwanz. Zerknittertes Hemd mit einer Zivildiener-Plakette an der Brust. »Sie wird gewaschen. Sie wird gewogen. Mehr ist nicht. Was soll das also? Sagen Sie mir gefälligst, wo meine Tochter ist.«
Der Zivildiener strich eine Strähne aus seinem Gesicht und blickte starr auf den Lageplan neben der Aufzugtür. »Alles Routine«, sagte er. »Alles unter Kontrolle. Beruhigen Sie sich.«
Hanna sank zurück. Bei jeder Bewegung wogte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Im dritten Stock öffnete sich die Schiebetür und der Zivildiener schob Hanna in ein Doppelzimmer. Er stellte sie auf den Platz neben dem Balkon, nahm die Krankenmappe und ging. Hanna stützte sich auf die Unterarme und sah sich um. Ihre Zimmerkollegin hatte die Decke über den Kopf gezogen. Hanna konnte nur ein braunes Haarknäuel und aufgeklebte Fingernägel erkennen. Am Nachtkästchen der Frau stand ein Orchideenstrauß. Auf der anderen Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt, lag ein Neugeborenes in einem roten Gitterbett und strampelte vergnügt.
Während Hanna die walnussgroße Faust des Kindes betrachtete, die sich ungelenk öffnete und schloss, klopfte es an der Tür. Ein Arzt, höchstens ein paar Jahre älter als der Zivildiener, betrat schwungvoll das Zimmer, nahm sich einen Stuhl und schaltete seinen Pieper auf lautlos. »Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte er. »Untersuchungen, Frau Mahler, Sie kennen das Prozedere.«
»Welche Untersuchungen?«, fragte Hanna. »Wo ist mein Kind?«
»Nun, Frau Dr. Mahler …« Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit der Innenseite seines Kittels.
»Sparen Sie sich das ›Frau Dr. Mahler‹. Ein Anruf bei der Patientenanwaltschaft und hier ist die Hölle los«, sagte Hanna. Die Aufregung machte sie ganz schwach. Sie hielt sich am Seitengitter fest und schluchzte. »Jeder Küchenpsychologe weiß, dass so ein Verhalten nicht in Ordnung ist. Nicht nach einer Geburt. Nicht gegenüber einer Mutter.«
Die Frau im Nachbarbett regte sich. Sie schlug die Decke zur Seite und holte, offenbar ohne Hanna und den Arzt wahrzunehmen, ihr Neugeborenes zu sich ins Bett.
»Frau Mahler, wir sind keine Idioten.«
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Der Arzt war für die Jahreszeit braungebrannt und ließ sich offensichtlich die Augenbrauen zupfen. Er holte ein Notizbuch aus seinem Kittel und schlug es dort auf, wo das rote Leseband eingeklemmt war. »Ich habe mir Ihre Ultraschallbilder angesehen.« Kurze Pause. »Sie haben ein Mädchen erwartet,