Solange Täter ihre Opfer verklagen, weil sie ihre Taten öffentlich gemacht haben, solange Vertuscher Schweigegelder bezahlen, solange unabhängige Aufklärer kontrolliert und erpresst werden (vgl. Christian Pfeiffer), solange überführte Täter ihre Unschuld beteuern oder sich als ungerechterweise Verfolgte inszenieren, kann niemandem von ihnen vergeben werden. Selbst wenn ihre Opfer das tun wollten. So kommen wir zu obigem Satz zurück: Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses Fehlverhalten zugibt und korrigiert. Und frühestens dann ist Vergebung, rein logisch betrachtet, überhaupt denkbar. Das heißt, der nächste Schritt in der Krise muss tatsächlich von der Seite der Täter und Vertuscher kommen. Und er heißt: Anerkennung persönlicher Schuld und Korrektur des persönlichen Fehlverhaltens. Ohne diesen Schritt gibt es keinen echten Ausweg aus der Krise.
DIE ERLÖSUNG
Aber gibt es ohne diesen Schritt auch keine Erlösung? Hören wir Jesus nicht am Kreuz sagen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?“ Ist Jesus nicht genau der, der die Verlorenen, Verlaufenen und Verzweifelten sucht und zurückholt, wie Drewermann das formuliert, anstatt den Stab über sie zu brechen? Oder umgekehrt: Kann es Menschen geben, denen wir keine Erlösung wünschen dürfen, nur weil sie uneinsichtig, verstockt und selbstgenügsam sind? Sind sie nicht gerade die erbärmlichsten Menschen, die man sich denken kann? – Und damit eben auch die, die der Erlösung am meisten bedürfen?
Mir scheint folgende Differenzierung an dieser Stelle von fundamentaler Bedeutung: Erstens: Missbrauchsbetroffene sind nicht Jesus. Sie können und müssen niemanden erlösen – schon gar nicht, indem sie über erlittenes Unrecht schweigen oder uneinsichtigen Tätern „vergeben“. Und zweitens: Menschen, die sich strafrechtlicher, kirchenrechtlicher und ethischer Verfehlungen schuldig gemacht haben, können nicht mit Verweis auf ihre Erlösungsbedürftigkeit für sich in Anspruch nehmen, vor den Konsequenzen ihrer Taten bewahrt zu werden. Die juristische Strafbewehrtheit einer Handlung, ihre sozialen Implikationen und ihre soteriologische Dimension müssen unterschieden werden, solange wir uns als Menschen noch unter den Umständen unserer irdischen Existenz wiederfinden – und eben: noch im Zustand der Erlösungsbedürftigkeit.
Diese Differenzierung vorausgesetzt bleibt die zutiefst christliche Hoffnung, dass es auch für die größten Übeltäter Erlösung geben kann. Aber diese Erlösung kann alleine von Gott kommen. Denn ihm – wenn überhaupt irgendjemandem – kann vielleicht doch gelingen, was Menschen nicht möglich ist: Die verhärteten Herzen der Täter zu berühren.
Unter allen biblischen Bildern liebe ich eines am meisten: Es ist das vom jüngsten Gericht. Wenn alle Menschen, die jemals auf dieser Welt gelebt haben, vor Gott treten. Wenn die, die nur Elend und Not gekannt haben, die in den Hungersnöten, Seuchen und Kriegen der Geschichte elende und grausame Tode gestorben sind, ihr Leben zurückbekommen – und was für ein Leben! Und wenn die größten Übeltäter und Verbrecher der Menschheitsgeschichte vor Gottes Angesicht treten müssen, die, die für diese ungerechten und grausamen Tode Verantwortung tragen, und wenn kein Geld sie mehr freikauft und keine Intrige sie mehr dem Blick ihres Richters entziehen kann und sie sich selbst nicht mehr belügen können. Wenn sie begreifen müssen, was sie getan haben – und was Gott wiedergutgemacht hat, sodass auch ihnen endlich vergeben werden kann. Als Letztes, am Ende der Weltgeschichte. Ich wünsche, dass das mehr ist als ein Bild. Ich jedenfalls möchte meine Täter zwar auf Erden nicht mehr wiedersehen. Aber ich hoffe, ihnen jenseits der Geschichte als erlösten Menschen wieder zu begegnen. Ich wünsche ihnen den Himmel.
LITERATUR
Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/drewermann-ueber-die-katholische-kirche-mir-tun-die.886.de.html?dram:article_id=446500.
Christian Pfeiffer im Interview mit GLAUBEN & ZWEIFELN, in: DIE ZEIT Nr. 17 vom 17. April 2019.
Global Sisters Report: https://www.globalsistersreport.org/news/trends/french-catholics-raise-voices-demand-measures-prevent-further-clergy-sex-abuse-56083.
Papst Franziskus in der Mittwochaudienz vom 24. April 2019: https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-nicht-alles-lasst-sich-mit-gerechtigkeit-losen.
Beschämte Opfer, schamlose Vertuscher und unverschämte Täter
Strange Encounters mit der unheiligen Trinität des sexuellen Missbrauchs
Seit Langem war zu ahnen, dass die Identitätspolitik nicht gut ausgehen konnte, die seit Ende der 1970er Jahre wie in anderen Religionsgemeinschaften auch in der katholischen Kirche Einzug gehalten hatte. „La revanche de Dieu“ hat Gilles Kepel diese scharfkantige public religion genannt (Kepel). Aber der Widerspruch gegen säkularen Relativismus war viel zu wenig von einer schweigenden, doch übergroßen Mehrheit der Gläubigen getragen. Für neue geistliche Gemeinschaften wie Legionäre Christi, Das Werk, La Famille Saint Jean, Communauté des Béatitudes etc., die einen Promille-Bereich der Weltkirche ausmachen, war die Revanche jedoch attraktiv genug, sich ihr hinzugeben. Seit Johannes Paul II. belegte diese Identitätsmatrix die Spitzen der katholischen Hierarchie und fand deshalb breite mediale Aufmerksamkeit. Man solle keine Angst haben, katholisch zu sein, so das Motto des Pontifikats. Hans-Joachim Sander
Neben rubrizierter Liturgie, katechetischen Weltjugendtagen und disziplinierenden Bischofsernennungen spielte dabei die Sexualmoral eine tragende Rolle. Sie sollte die überlegene Wahrheit einer mit göttlicher Offenbarung verknüpften Wertehaltung demonstrieren, die im ausgemachten sexuellen Relativismus dieser Welt unweigerlich Widerspruch erfahren musste. Das wiederum, so das Kalkül der Revanche, würde die katholische Identität umso mehr qualifizieren.
ZWAR NICHT VON ANGST, ABER VON DIKTATORISCHEM RELATIVISMUS BESCHÄMT
Johannes Paul II. hatte Recht, dass niemand vor dieser Moral Angst haben müsse. Aber der Sinn seiner Aufforderung erwies sich anders als intendiert. Die mit klaren katholischen Kanten propagierte Sexualmoral hat den sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Nonnen durch Priester nicht verhindert, ist dessen Vertuschung durch Entscheidungsträger in der Hierarchie nicht in den Arm gefallen und hat den Ausgleich mit Opfern nicht kostspieliger gemacht. Kein Täter oder Vertuscher musste sich vor ihr ängstigen, wenn nur deutlich genug eine sehr katholische Identität zur Schau getragen und anderen als homogenisierbare Einheit aufgedrängt wurde. Jetzt, in der Skandalisierung dieser Bigotterie, zeigt sich erschreckend klar: Die Wahrheitsansprüche über Sexualität blieben nicht nur außerhalb der katholischen Welt bedeutungslos, sondern auch innerhalb sinnlos. Das führt zur herben Ernüchterung. Zwar musste niemand vor katholischer Moral Angst haben, wer in sexuellen Missbrauch verstrickt war, aber all jene müssen sich nun deren überheblicher Missachtung schämen, die sich noch mit Kirche identifizieren. Mit dieser Beschämung hat die Identitätsmatrize schließlich doch die schweigende Mehrheit der Gläubigen erreicht. Das ist dreifach virulent in der Scham der Betroffenen, was Priester ihnen antaten, in der schamlosen Vertuschung von Entscheidungsträgern, die das kalkuliert versteckten, und in der Unverschämtheit der Täter, die geistliche Erhabenheit nutzten, um Opfer anzulocken und dann mit der Schande allein zu lassen. Das ist so etwas wie die unheilige Trinität des sexuellen Missbrauchs; sie isoliert die beteiligten Personen voneinander und verkettet sie zugleich im Unwesen selbstgerechter Macht. Die Konfrontation mit ihr wird auf längere Zeit nicht vergehen. Zu erwarten sind eher weitere Etappen einer langen kirchlichen Wüstenwanderung; die Bigotterie zwischen Propagierung ewig-verwerfender Wahrheiten und klammheimlich gelebter Praxis in Sachen Homosexualität