So etwas kann geschehen, wo „unser Ohr heimlich den Hauch göttlichen Flüsterns empfängt“, wo Gott uns anrührt.
Franziskus, der einem toten und trockenen Stück Holz, das er zufällig findet, eine mitreißende Musik entlockt und zu singen und zu tanzen anfängt, ist das hoffnungsvolle Bild einer gelungenen Alltags-Spiritualität. Es lädt dazu ein, sich mit dem Mann aus Assisi auf die Suche nach einer solchen Spiritualität zu machen.
2. Alltags-Spiritualität – Was ist das?
Daraus kann ich wirklich leben!
„Es gibt drei Formen von Realität – Speck, Geld und Sex! Alles andere ist Spiritualität!“ Dieser Satz bringt provozierend auf den Punkt, was viele Menschen erfahren: Da gibt es auf der einen Seite die harte Wirklichkeit unseres Lebens. Da muss man scheinbar gar nicht mehr diskutieren und nichts entscheiden. Sie bestimmt einfach unseren Alltag. Wer sich den facts beugt, gilt als Realist und geerdeter Pragmatiker. Ihr gegenüber wirkt „Spiritualität“ leicht wie ein Überbau, der mit der Alltagswirklichkeit wenig zu tun hat, etwas für leichtfüßig naive Träumer, die man nicht ganz ernst nehmen muss.
Für einen Christen bezeichnet „Spiritualität“ ein Leben aus der Kraft des „Spiritus Sanctus“, aus dem Geist Gottes, dem Geist Jesu Christi. Natürlich gibt es andere Geister. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ – auch aus diesem Satz aus der Dreigroschenoper von Bertold Brecht spricht ein bestimmter Geist, auch dahinter steckt eine Form von „Spiritualität“. Er fällt bezeichnenderweise in der „Ballade über die Frage: Wovon lebt der Mensch?“ Irgendwovon lebt jeder Mensch. Irgendwoher bezieht jeder Mensch die entscheidenden Impulse für sein Tun. Meine bewussten oder unbewussten Motivationen und Ziele, die Ängste und Hoffnungen, die mein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, verweisen auf den Geist, aus dem ich lebe. „Traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind“, mahnt der erste Johannesbrief (1 Joh 4,1). Die Spiritualität eines Menschen ist der Geist, aus dem er lebt. Sie zeigt sich darin, wie er sich und die Welt wahrnimmt und damit umgeht.
Echte Spiritualität ist also niemals ein Überbau. Etwas, was von außen dazukommt und darum auch fehlen könnte. Das luxuriöse Sahnehäubchen, das sich sowieso nur die leisten können, die nicht Tag für Tag im (Über-)Lebenskampf stehen. Eine Spielwiese für die aussterbende Spezies der religiös Hochbegabten. Eine wirkliche Spiritualität wird sich als tragfähiges Fundament erweisen, als lebendige Quelle, die mich immer neu „in-spiriert“. Sie eröffnet mir einen kreativen Freiraum gegenüber den scheinbar alles dominierenden facts: Ich bin ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Ich kann gestalten. Wir leben zwar alle in derselben Wirklichkeit. Aber wir können sie ganz unterschiedlich deuten und unterschiedlich damit umgehen.
Jede Spiritualität muss sich daran messen lassen, ob sie praxis- und gegenwartstauglich ist. Wenn sie den Stresstest des Alltags nicht aushält und bestimmte Bereiche meiner Wirklichkeit ausklammert, weil sie damit nicht zurechtkommt, oder wenn sie mir nicht wirklich neue Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, kann ich sie getrost vergessen.
Darum ist Spiritualität so ziemlich genau das Gegenteil einer Ideologie. Eine Ideologie wird eingehämmert. Ich muss sie „glauben“. Eine Spiritualität dagegen kann ich entdecken, ausprobieren und weiterentwickeln. Wenn ich sie lebe, erfahre ich, wie sie sich bewährt und trägt. Ideologien engen ein, Spiritualität macht weit. Ideologien brauchen Scheuklappen, Spiritualität öffnet die Augen. Ideologie biegt Wirklichkeit zurecht, Spiritualität entdeckt sie immer mehr.
„Einigen Künstlern geht es, wenn sie die Welt betrachten, wie vielen Philosophen. Bei der Bemühung um die Form geht der Stoff verloren. Ich arbeitete einmal bei einem Gärtner. Er händigte mir eine Gartenschere aus und hieß mich einen Lorbeerbaum beschneiden. Der Baum stand in einem Topf und wurde zu Festlichkeiten ausgeliehen. Dazu musste er die Form einer Kugel haben. Ich begann sogleich mit dem Abschneiden der wilden Triebe, aber wie sehr ich mich auch mühte, die Kugelform zu erreichen, es wollte mir lange nicht gelingen. Einmal hatte ich auf der einen, einmal auf der anderen Seite zuviel weggestutzt. Als es endlich eine Kugel geworden war, war die Kugel sehr klein. Der Gärtner sagte enttäuscht: ‚Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?‘“1 Was Bertold Brecht in dieser Geschichte von Herrn Keuner an Künstlern und Philosophen kritisiert, weist auch auf eine spirituelle Falle hin: Die Wirklichkeit wird so lange zurechtgestutzt, bis sie einer von außen kommenden Vorgabe entspricht. Dann stimmt vielleicht die äußere Form, aber sie ist künstlich, unecht, verkrampft. Spiritualität will Leben formen, indem sie die Wirklichkeit von innen her durchdringt. Ein frommes Korsett nimmt die Wirklichkeit nicht ernst und vergewaltigt sie. Spiritualität ist eine Form von Lebenstüchtigkeit, nicht Flucht vor der Wirklichkeit. Sie will Wirklichkeit immer mehr zulassen, nicht vermeiden. Die franziskanische Spiritualität braucht diesen Praxistest nicht zu fürchten.
Der Herr ist hier – und ich wusste es nicht!
Die Bibel erklärt nicht theoretisch, was Spiritualität bedeutet. Sie erzählt anschauliche Geschichten, wie Menschen Gott begegnen und aus der Beziehung zu ihm die Welt anschauen und ihr Leben gestalten.
Da ist zum Beispiel Jakob. Er ist auf der Flucht vor seinem Bruder Esau. Irgendwo am Wegrand schläft er erschöpft ein. Im Traum sieht er eine Leiter, die Himmel und Erde verbindet. Er erfährt sich in lebendigem Kontakt mit Gott, der ihm Land und Nachkommenschaft und damit Zukunft verspricht: „Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst“ (Gen 28,15). Gehetzt, auf der Flucht, voller Angst, todmüde, ohne Perspektive – das ist der Raum, in dem er Gott begegnet! „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht“ (Gen 28,16).
Wer aus dem Geist Gottes lebt, wird diesen Gott überall erfahren. Gott wohnt nicht nur am heiligen Ort, wo man ihn erwartet. Er kann ganz unerwartet begegnen, auch da, wo ich am wenigsten mit ihm gerechnet hätte. Jeder Ort und jede Zeit können Raum Gottes sein. Die Bibel wird nicht müde, das in immer neuen Geschichten zu erzählen: Die Sklavin Hagar wird mit ihrem Sohn von Abraham verstoßen – und trifft mitten in der Wüste auf den Engel, der ihr Zukunft verheißt (vgl. Gen 21,9–21). Der lebensmüde Elija, der unter dem Ginsterstrauch am liebsten für immer einschlafen würde, begegnet genau dort dem Engel, der ihm Brot und Wasser bringt und ihn erneut auf den Weg schickt (vgl. 1 Kön 19,1–8). Das Volk Israel, das sich in der babylonischen Gefangenschaft ohne Tempel, ohne Opferkult und ohne Priester von Gott verlassen fühlt, erfährt erstaunt, dass Gott ihm auch dort in der Fremde Propheten erweckt. Sie alle können sagen: Mein Gott, du bist ja da – und ich wusste es nicht!
Spirituell leben heißt nicht, Gott erst irgendwie in mein Leben hineinbringen. Er ist immer schon da. Er wartet dort schon längst auf mich. Es kommt darauf an, die Augen und das Herz weit aufzumachen, um ihn zu entdecken. Seit Jesus in einer Krippe außerhalb der Stadt geboren und außerhalb der Stadt, mitten unter Verbrechern, hingerichtet wurde, gibt es keinen Ort mehr, der gottlos wäre. Spiritualität ist nicht (nur) der Aufstieg der Seele zu Gott, so schön dieses Bild auch ist. Spiritualität ist vor allem der Abstieg Gottes zu uns, die überraschende Erfahrung, dass er zu uns herunterkommt, alltäglich wird, klein und „normal“. Auch die Berufung der Jünger ereignet sich im Alltag, beim Fischfang, als sie ihre Netze richten (vgl. Mt 4,18–22), oder im Zollbüro (vgl. Mt 9,9). Und noch der Auferstandene gibt sich während der alltäglichen Arbeit, ja in der Vergeblichkeit des Gewöhnlichen zu erfahren (vgl. Joh 21,1–14).
Ich finde Gott – und ich finde mich!
Christliche Spiritualität hat immer zwei Pole: Es geht um Gott – und es geht um mich. Es geht um Gott. Darum erschöpft sich spirituelles Leben nicht in frommen Übungen, auch wenn ich sie