Wirklich beachtenswert ist, dass das Miterleben viele dieser Situationen für Einsatzkräfte einen normalen Arbeitsalltag darstellt. Die meisten werden täglich mit Unfall und Krankheit, Tod und sozialem Elend konfrontiert und erleben, zumindest gelegentlich, besondere Schadenlagen. Trotzdem reagiert ihr AVS auf all diese Bedrohungen in gewöhnlichem Ausmaß. Das Problem hierbei ist, dass das AVS als Notfallprogramm ausgelegt ist. Wenn es zu häufig aktiv ist und dazwischen zu wenige Ruhephasen hat, kann das zu schwerwiegenden psychischen und körperlichen Folgen führen. Auf diese Problematik wird in den nächsten Kapiteln noch verstärkt eingegangen (Hüther 2018, Roth und Strüber 2018).
[17]3.4 Stressantwort
Das Alarm- und Verteidigungssystem reagiert also auf eine ganze Reihe von möglichen Bedrohungen. Doch was passiert, wenn es eine Situation als gefährlich eingestuft hat? Das AVS wird auch als »neuroendokrine Stressantwort« bezeichnet. Es bedient sich also des Nerven- und Hormonsystem des Körpers und sendet Stresssignale als Reaktion auf eine mögliche Bedrohung hin aus. Diese Signalstoffe (beispielsweise das Hormon Noradrenalin) verstärken den Sympathikus (»Sport-/Kampfnerv«) als Teil des vegetativen (unwillkürlichen) Nervensystems. Dadurch wird verschiedenen kampf- und fluchtwichtigen Regionen des Körpers verstärkt Energie bereitgestellt und die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die Quelle der potenziellen Gefahr. Die wichtigsten Reaktionen des Sympathikus sind in der folgenden Tabelle dargestellt:
Tabelle 2: Sympathikus [zurück]
Sympathikus (»Sportnerv«) | ||
Körperregion | Wirkung | Nutzen |
Herz | Herzfrequenz und Herzkraft erhöht | Mehr Blut wird gepumpt: Verbesserter Transport z. B. von Sauerstoff |
Blutgefäße | Verengt → Blutdrucksteigerung | Verbesserter Transport, auch in periphere (entlegene) Körperregionen |
[18]Lunge | Bronchien weiten sich, die Atmung wird beschleunigt | Verbesserte Sauerstoffzufuhr/CO2 Abatmung →Mehr Leistung wird möglich |
Verdauungssystem | Verringerung der Verdauung | Blut wird in »kampfwichtigen« Regionen gebraucht |
Augen | Pupillen weiten sich | Mehr Lichteinfall ins Auge → besseres Sehen |
Haut | Schweißproduktion | Kühlung |
Umso stärker der empfundene Stress, desto weniger sind logisches Denken und planvolles Handeln möglich. Bei unmittelbarer Gefahr kann das AVS eigenständig, also ohne Beteiligung unseres Bewusstseins, entscheiden und entsprechende instinktive Handlungen auslösen. Diese instinktiven Handlungen sind nicht mehr bewusst steuerbar.
Bei Einsatzkräften reagiert das AVS sobald sie durch Melder oder Sirene alarmiert werden. Dadurch wird die nötige Energie bereitgestellt und die Wachsamkeit erhöht. Allerdings verengen sich auch der Blick und die Wahrnehmung durch eine stärkere Fokussierung, es kann zum Tunnelblick kommen. So wird es schwieriger, die Gesamtsituation im Blick zu behalten und zusätzliche, nicht offensichtliche Gefahren werden leichter übersehen. Deshalb ist es im Einsatzgeschehen unerlässlich, [19]dass die Zusammenarbeit und Kommunikation im Team gut funktioniert.
3.5 Stresskaskade
Die Reaktion des Organismus auf eine mögliche Gefährdung durchläuft die Stresskaskade. Diese besteht aus mehreren, jeweils eskalierenden Stufen. Ob alle Stufen der Kaskade durchlaufen werden, ist abhängig von der Schwere der Bedrohung, den eigenen Möglichkeiten zur Gefahrenabwehr und früheren Erfahrungen. Da jeder die Gefahr individuell beurteilt, kann es sein, dass unterschiedliche Menschen in der selben Situation verschieden reagieren. Die Stresskaskade gliedert sich nach Schauer, Neuner und Elbert (2011) in folgende Stufen:
Stufe 1 – Freeze: Wenn genügend Zeit ist, durchläuft der Organismus eine kurze Orientierungsphase. Er erstarrt und die Aufmerksamkeit wird auf die Gefahrenquelle gerichtet. Diese Phase wird genutzt, um die Gefahr abzuschätzen und die erforderliche Reaktion vorzubereiten.
Stufe 2 und 3 – Flight und Fight: Wird die erkannte Gefahr als starke Bedrohung wahrgenommen, wird das Verteidigungssystem über den Sympathikus aktiviert (siehe Tabelle 2). Die teilweise als unangenehm empfundenen Sympathikusreaktionen dienen dazu, alle Energiereserven des Körpers zu mobilisieren und den Organismus zu Höchstleistungen bei Flucht oder Kampf zu befähigen. [20]Nicht benötigte Körperfunktionen (z. B. Verdauung) werden verringert, Blase und Darm können sich unwillkürlich entleeren. Auch wenn das den Menschen (aus heutiger Sicht) in eine peinliche Situation bringen kann, geht es dem AVS lediglich ums Überleben durch Vorteile bei der Flucht.
Ob der Organismus versucht zu fliehen oder zu kämpfen, entscheidet das AVS selbständig. Wenn die Flucht möglich erscheint, ist diese meist risikoärmer als der Kampf und wird deshalb häufig gewählt. Ist die Entscheidung für eine Reaktion gefallen, läuft das entsprechende Programm solange ab, bis das AVS entscheidet, dass die akute Gefahr gebannt ist. Allerdings kann das AVS auch in kürzester Zeit seine Entscheidung zwischen Flucht und Kampf revidieren, etwa wenn eine Flucht unmöglich erscheint. Dieses Verhalten kann zu scheinbar widersinnigen Handlungen führen und Betroffene können sich und andere dadurch in Gefahr bringen.
Auch Einsatzkräfte können auf unvorhergesehene Ereignisse wie Explosionen oder Einstürze entsprechend reagieren. Häufig sind bei ihnen Schuld- oder Schamgefühle zu beobachten, wenn sie in solch einer Situation weglaufen und womöglich Kameraden zurücklassen. Allerdings handelt es sich dabei um eine normale Reaktion des AVS, welches intuitiv auf eine unnormale Situation reagiert. Diese Reaktion lässt sich nicht durch die Einsatzkraft beeinflussen.
Stufe 4 – Fright (Totstellen): Wenn die akute Gefahr nicht durch Kampf oder Flucht abgewendet werden kann und der Betroffene keine Möglichkeit mehr sieht, auf das Geschehen einzuwirken, schal[21]tet der Organismus von aktiver Verteidigung auf Immobilität um. Dieses Totstellen ist auch in der Tierwelt verbreitet und hat den Hintergrund, dass scheinbar tote Tiere seltener gejagt und gefressen werden. Aufgrund der scheinbaren Hilf- und Ausweglosigkeit wird diese Situation als besonders bedrohlich erlebt und bildet den Höhepunkt des Angstempfindens.
Dieser Totstellreflex bildet einen Wendepunkt in der Stresskaskade. In den Phasen der aktiven Verteidigung dominierte der Sympathikus, beim Totstellen übernimmt der Parasympathikus (»Ruhenerv«) als sein Gegenspieler. Die Auswirkungen des Parasympathikus sind konträr zu denen des Sympathikus. Die Herzfrequenz und der Blutdruck verringern sich, die Atmung wird langsamer und flacher und der Verdauungsprozess beginnt. Im Normalfall ist der Parasympathikus der Ruhenerv und wird menschheitsgeschichtlich dann verstärkt aktiv, wenn