Der Weg ist ohne Zweifel ein konstitutives Merkmal der franziskanischen Bewegung – und dies nicht nur als Metapher, sondern auch im wörtlichen, physischen Sinn. Das Neue an Franziskus ist, dass er die Welt als sein Kloster betrachtet und den Weg zu seinem Aufenthalts- und Bewegungsraum erklärt. Dies kommt in allen seinen Gebeten, Regeln und Schreiben zum Ausdruck. Seine Biographen werden nicht müde, zu betonen, dass Franziskus und seine Bruderschaft Menschen des Weges sind. Eine geistig-geistliche Nähe zur lukanischen Wegthematik ist unverkennbar. Da wundert es nicht, dass der Bericht des Thomas von Celano im 14. Kapitel seiner „Ersten Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus“ mit der Überschrift „Seine Rückkehr aus der Stadt Rom ins Spoletotal und sein Verweilen auf dem Weg“ (1 C 14, FQ 219) deutliche Parallelen zur Emmauserzählung aufzeigt.
Dieser Band der „Franziskanischen Akzente“ will nicht nur dieser „Verwandtschaft“ nachgehen, sondern darüber hinaus eine spirituelle Hilfe für die Praxis bieten: die Emmauserzählung und ihre franziskanische Variante als Grundlage für einen persönlichen Exerzitienweg sowie als Modell geistlicher Gemeinde- und Gemeinschaftskultur.
2. Ouvertüre und Finale
Lukas verdichtet im ersten und letzten Kapitel die Motive und Aussagen des ganzen Evangeliums und entfaltet eine „Theologie des Weges“.
Wer zum ersten Mal ein fremdes Haus betritt, tut das mit bestimmten Erwartungen. Wenn sich dann die Haustüre öffnet und den Blick ins Innere freigibt, entsteht ein erster und oft entscheidender Eindruck. In einer einzigen Sekunde nehmen wir wahr, wie es drinnen ist: die Temperatur, den Geruch, die Ordnung, die Atmosphäre, die Gesichter, die Stimmung … Das deutsche Wort „Schlüsselerlebnis“ spricht diese Erfahrung an: Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, eine Türe öffnet sich, ein Raum tut sich auf – und wir spüren, was auf uns zukommt.
Wer ein Haus verlässt, erfährt etwas Ähnliches. Der letzte Eindruck, das „AufWiedersehen“, die Atmosphäre des Abschieds, das Schließen der Türe, das Knarren des Schlosses, all das ist noch einmal ein „Schlüsselerlebnis“.
Das erste und das letzte Kapitel des Lukasevangeliums vermitteln uns „Schlüsselerlebnisse“. Wie in einem Brennpunkt leuchtet das ganze Evangelium am Anfang und am Schluss auf. Lukas stellt seinem Evangelium zwei Kindheitsgeschichten voran: die Geschichte von der wundersamen Verkündigung und Geburt des Propheten Johannes des Täufers und die Geschichte von der wundersamen Verkündigung und Geburt des Messias Jesus von Nazaret. Die Jesusgeschichte macht von Anfang an den Unterschied zu anderen berühmten Gestalten der Geschichte deutlich: Jesus wird nicht in der Hauptstadt Jerusalem geboren, sondern in der Provinz, nicht in einem königlichen Palast, sondern in einem Stall. Es sind nicht die politischen und religiösen Größen seiner Zeit, die ihn erwarten und begrüßen, es sind die „kleinen Leute“, die sozial und religiös Randständigen. Die Großen dagegen lehnen ihn ab und werden ihn sein Leben lang verfolgen. Dieser Messias, das zeigt bereits der Anfang, hat seinen Platz nicht bei den Mächtigen und Prominenten, sondern bei den Armen, Hungernden und Erniedrigten. Er geht nicht nur zu ihnen, um sie aus ihrem Elend herauszuholen, er gehört zu ihnen.
Zu den Menschen, deren Ent-Niedrigung dem Evangelisten Lukas und noch mehr Jesus am Herzen liegt, gehören auch die Frauen. Der Anbruch des Reiches Gottes duldet weder die patriarchalische Dominanz noch sonst ein „Oben“ oder „Unten“ in der Geschlechterbeziehung. Das Reich Gottes „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52). Nicht von ungefähr stehen zu Anfang des Lukasevangeliums neben den beiden Kindern zwei Frauen in der Mitte des Geschehens: die Mütter Maria und Elisabet. Ihre beiden Bekenntnisse sind so etwas wie ein erster Höhepunkt des „Dramas“ von der Rettung der Welt durch den Messias Jesus. Das „Lied der Erlösung“, das Maria bei der Begegnung mit ihrer Cousine singt, bringt dies in dichterischer Sprache und zugleich in nüchterner Klarheit zum Ausdruck:
„Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig“ (Lk 1,46–55).
Das Magnificat darf nicht nur als Lobpreis Gottes gedeutet werden. Es hat – wie das ganze Lukasevangelium – eine gesellschaftliche, Welt gestaltende Dynamik. Was Maria sagt, stellt herkömmliche Gewohnheiten und Wertvorstellungen auf den Kopf. Es intendiert nicht nur einen „spirituellen Mehrwert“, es fordert ein „Mehr“ an Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit. Von Dietrich Bonhoeffer stammt die Aussage: „Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie aufBildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht. [Dies ist] ein hartes, starkes, unerbittliches Lied von stürzenden Thronen und gedemütigten Herren dieser Welt, von Gottes Gewalt und von der Menschen Ohnmacht.“1
Jesus bricht mit allen Herrschaftsverhältnissen: mit der Herrschaft des Gesetzes über die Menschen, der Männer über die Frauen, der Starken über die Schwachen und der Reichen über die Armen. Er bricht mit den gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen seiner Zeit, weil es ihm um ein Leben geht, in dem Menschen als Kinder des einen
Gottes geschwisterlich und gewaltfrei miteinander umgehen. Die Folge ist absehbar: Das „System“ bricht mit Jesus und zerbricht ihn. Es kann die Provokation zum Aufbruch nicht ertragen.
So gilt auch für die Jüngerinnen und Jünger Jesu, dass ihr Weg der Nachfolge Bruch und Aufbruch bedeutet. Menschen, die sich auf eine christliche Existenz einlassen, begeben sich auf einen mühevollen Weg. Ihr Wachsen und Reifen, ihr Weg zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott, verläuft nicht in einem linearen Aufstieg, sondern in einem Verwandlungsprozess, der von Fluchtversuchen, Irrtümern, Abstürzen und Verwundungen gekennzeichnet ist. Die Nachfolge Jesu ist keine religiöse Erfolgsgeschichte, sie lässt auch nicht zu, dass Menschen auf ihrem Glaubensweg die Erschütterungen, Zweifel und Paradoxien umgehen. Nachfolge ist immer auch die Erfahrung der Gebrochenheit, der ungelösten Fragen, der „dunklen Nacht“ und des Kreuzes.
Ein zweites Motiv, das Lukas bereits zu Beginn anklingen lässt, ist der sich immer wiederholende Verweis auf die Heilige Schrift der jüdischen Tradition. Das dritte Evangelium betont, dass alles, „was sich unter uns ereignet und erfüllt hat“ (Lk 1,1), haargenau dem entspricht, „was die Propheten gesagt haben“ (Lk 24,25). Ob Lukas selbst Jude war, ist nicht sicher auszumachen. Er war sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Kulturkreis zuhause und zeigt eine geistige Nähe zum Diaspora-Judentum. „Anders als andere – spätere – christliche Theologen vermag er keinen ‚Bruch‘ zu sehen zwischen dem Judentum und der Botschaft Jesu, im Gegenteil: Für ihn ist Jesus der Prophet, der geisterfüllt in der Lage ist, die Schrift zu deuten: ‚Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt‘ (Lk 4,21).“2
Bereits am Anfang des Evangeliums bringt Lukas seine Grundaussagen zum Ausdruck: Jesus ist als Gottes menschgewordener Sohn auf dem Weg, um die Armen und Erniedrigten zu suchen. In ihm erfüllen sich die Heiligen Schriften. Seine Botschaft und sein Werk haben sowohl eine geistliche als auch eine weltgestaltende Dynamik.
Schon die Erzählung von der Geburt und Kindheit Jesu ist eine Weggeschichte. Auf dem Weg zur Volkszählung gebiert Maria ihr Kind. Er, der Messias, der die Mitte