Bisweilen verschleiert sich ein solches inneres Abwehrmanöver auch durch ein überhöhtes Männlichkeitsideal, in dem Empathie verachtet und eine Kultur der Stärke glorifiziert wird. Nächstenliebe, Mitleid und Anerkennung werden dann als Werte abgelehnt. Gruen gibt zu bedenken, dass es ganz und gar nicht leicht ist, innerhalb einer solchen Kultur der Stärke die Falschheit der Härte zu durchschauen. Denn man ist ja selbst ein Teil dieser Kultur und faktisch von ihr geprägt. Trotzdem gibt es nur einen Ausweg aus dieser falschen und potentiell gewalttätigen Kultur der Stärke: das Erlernen von Empathie. „Diese Fähigkeit, die in unserem Kulturkreis vielleicht nur ein Drittel der Bevölkerung vollkommen entwickelt hat, schützt und sichert ein Überleben der Demokratie. Das Einfühlen in den Schmerz und das Leid macht das Böse unmöglich. (…) Diejenigen, die den Fremden in sich selber spüren und erkennen, werden ihre Individualität, ihre Vitalität und ihre Liebe zum Leben entfalten können“, schreibt Gruen.17
Arno Gruen wurde an dieser Stelle deshalb so ausführlich zu Wort gebracht, weil seine Analyse aktueller nicht sein könnte und ein helles Licht auf die mentalen Unterströmungen der aktuellen Entwicklungen hin zu Fremdenfurcht und Nationalismus wirft. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie leicht Ideologien oder auch die Religion zum Spielball psychischer Kompensationen des frühkindlichen Liebes- und Anerkennungsmangels werden können. Das eigentliche Problem stellt in dieser Sichtweise nicht die fundamentalistische Religion an sich dar, sondern die darunter liegenden mangelhaften Anerkennungsverhältnisse und die prekäre psychische Verfasstheit der Einzelnen. Es erscheint dann fast als unmöglich, mit dem wohlmeinenden Appell nach einer reifen und anerkennungsfähigen Religion an Menschen heranzutreten, die selbst gefangen sind in einem tiefen Schmerz – Menschen, die sich selbst nicht als anerkannt erleben durften und die deshalb kein eigenes, selbstbestimmtes, erfülltes Leben leben können. Insofern müsste zum einen die fundamentalistische Religion entlarvt werden als die projektive Abwehr eigener Abwertungserfahrungen, und andererseits müsste versucht werden, auch im Raum der Religion Empathie über die Bejahung des eigenen Selbstseins und Entdämonisierung des Anderen zu fördern. Wie dies allerdings ohne die psychotherapeutische Bearbeitung des frühkindlichen Schmerzes der Nicht-Anerkennung gelingen soll, bleibt eine offene Frage. An dieser Stelle genügt es, auf dieses Problem hinzuweisen. Die folgende Diskussion der psychoanalytischen Anerkennungstheorien wird möglicherweise den einen oder anderen Ausweg aufzeigen. Er wird in der Schaffung und Stärkung einer Kultur der Beziehung und Anerkennung sowie in einer Ausbreitung der Psychotherapie liegen.
Die institutionalisierte Religion selbst scheint gut beraten zu sein, ihrerseits auf ein psychologisches Verständnis von Glaubensprozessen zu achten und zwischen malignen (bösartigen) und benignen (gutartigen) Gottesbildern und Glaubensvorstellungen zu unterscheiden sowie diejenigen Potentiale stark zu machen, die eine Anerkennung des Eigenen und des Anderen befördern. Die akademische Theologie hat sich jedenfalls in den letzten Jahren bereits vereinzelt dem Diskurs über Anerkennung geöffnet mit einer Analyse jener Potentiale der Religion, die für gelingende Anerkennung fruchtbar gemacht werden können. Dieser spezifische Blickwinkel auf den Zusammenhang von Anerkennung und Religion scheint heute notwendiger denn je. Denn es wird in den kommenden Jahren zentral um die Gewährung und Verweigerung der vielfältigen Formen gesellschaftlicher Anerkennung gehen.
Das hat der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erkannt, als er sein Buch „Kampf um Anerkennung“ schrieb. Es hat sich als ein weit vorausschauendes Buch erwiesen. Mit dem B egriff der Anerkennung hat Honneth einen Schlüsselbegriff zum Verständnis vieler gegenwärtiger Konflikte gefunden. Anerkennung ist eine harte Währung geworden. An ihr hängt nicht nur die Möglichkeit der Teilhabe, sondern auch die Würde des Einzelnen.
Es zeigt sich, dass jede Erklärung des Menschen und der Gesellschaft zu kurz greift, die nicht das grundlegende menschliche Angewiesensein auf Anerkennung berücksichtigt. Der Mensch ist und bleibt ein Beziehungswesen und von Anfang an abhängig von der Anerkennung durch andere. Er ist ein Wesen, das im Eingebettetsein wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse leben muss. Und deshalb ist eine Gesellschaft, der es um das Wohl aller ihrer Mitglieder geht, gut beraten, auf die Gewährung und Gewährleistung von Anerkennung zu achten.
Das vorliegende Buch möchte den Nährboden dieses Diskurses über Anerkennung, dem sich auch die Religionen stellen müssen, zusammenfassend darstellen: die wichtigsten gegenwärtigen sozialphilosophischen, psychoanalytischen und theologischen Konzepte einer Anerkennungstheorie. Dies geschieht jeweils verbunden mit Überlegungen zu den Folgerungen der einzelnen Konzepte für die Rolle der Religion in der jeweiligen Form einer Kultur der Anerkennung. Im zweiten Teil soll dann genauer nach den besonderen Elementen der Religion gefragt werden, die eine Kultur der Anerkennung fördern oder hemmen können.
Wohlgemerkt: Es gibt nicht nur die bad news von den deformierenden Auswüchsen der (unreifen) Religion, die sich der Anerkennung des Anderen verweigert. Es gibt auch hoffnungsvolle religiöse Entwicklungen hin auf eine anerkennungs- und differenzfähige Religion. Dafür sei als Beispiel die Erfahrung des amerikanischen Neurologen und Autors Oliver Sacks (1933–2015) erwähnt. In seinem letzten Buch mit dem Titel „Dankbarkeit“ beschreibt er, wie er als Heranwachsender die schlimme Erfahrung einer ausgrenzenden, entwertenden und beschädigenden Form von Religion machen musste – ein Beispiel für das große Ausgrenzungspotential verabsolutierter Religion. Oliver Sacks erzählt von einem Erlebnis aus seinem achtzehnten Lebensjahr: „Damals fragte mein Vater mich nach meinen sexuellen Neigungen und gab keine Ruhe, bis ich zugab, eine Vorliebe für Jungs zu haben. ‚Ich habe nie etwas getan‘, sagte ich, ‚es ist nur ein Gefühl – aber sag Ma nichts, sie würde es nicht verkraften.‘ Doch er sagte es ihr. Als sie am nächsten Morgen herunterkam, sah sie mich voller Abscheu an und rief: ‚Du bist ein Gräuel. Ich wünschte, du wärest nie geboren.‘ (Zweifellos dachte sie an die Verse im 3. Buch Mose: ‚Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen.‘)“ Dieses Erlebnis entfremdete ihn von seiner Herkunftsreligion. Doch am Ende seines Lebens nimmt er die Einladung zur Geburtstagsfeier seiner 100-jährigen Cousine in Jerusalem an – und begibt sich wieder in die Mitte seiner jüdisch-orthodoxen Großfamilie: „Ich hatte ein wenig Angst gehabt, da ich meine orthodoxe Familie zusammen mit meinem Liebhaber Billy aufsuchte – die Worte meiner Mutter lasteten noch immer auf meiner Seele, aber Billy wurde herzlich willkommen geheißen. Wie grundlegend die Einstellung sich selbst bei orthodoxen Juden gewandelt hatte, zeigte sich, als Robert John [sc. der strenggläubige Cousin] Billy und mich einlud, am Freitagabendmahl im Kreis seiner Familie teilzunehmen.“18
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