VON DER BEWUNDERUNG ZUR HERABLASSUNG
Während Saussure in seiner Erwartung, in den Alpen besonders vorbildliche Menschen anzutreffen, nicht enttäuscht wurde, machte Henriette d’Angeville hierzu bemerkenswert zwiespältige Aufzeichnungen. In ihrem «Tagbuch» notierte sie, es sei sehr wichtig, den Einheimischen die geleisteten Dienste gut zu bezahlen. Es war ihr ein selbstverständliches Anliegen, in Chamonix wohltätig zu wirken. Zu diesem Zweck fragte sie eigens beim Pfarrer an, welches die Armen des Dorfes seien, und plante Almosen fest in ihr Reisebudget ein. Und schliesslich, zurück in Genf, bereitete es ihr grosse Freude, Geschenke für ihre Helfer in Chamonix einzukaufen.187 Alles spricht dafür, dass ihre Kontakte zu den Einheimischen recht erfreulich verlaufen waren und dass es Angeville gelungen war, auf die gewünschte Weise als grosszügige Dame aufzutreten.
Im für die öffentliche Publikation verfassten Manuskript allerdings tönt es anders: Hier berichtete Angeville von manch herber Enttäuschung bei der konkreten Begegnung. Zu Beginn ihrer Tour etwa suchte sie die vielgepriesene Gastfreundschaft in den einfachen Hütten, doch leider wurde dies – anders als in Rousseaus Roman – kein erhebendes Erlebnis. Das harte Walliser Brot etwa wollte der Aristokratin nicht recht schmecken:
«Arrivée à un chalet près du bois des Pèlerins, j’eus la fantaisie de manger du pain indigène; l’un des guides entra dans le chalet et me rapporta un vrai morceau de granit, dans lequel il me fut impossible de mordre. C’était une pâte noire, dure et compacte dont n’aurait pas voulu un chien de bonne maison … Je m’informai si cette horrible nourriture était commune dans le pays, et j’appris, à mon grand étonnement, qu’à peu d’exceptions près, tout le monde s’en arrangeait. Je remerciai Dieu intérieurement de m’avoir accordé l’honnête médiocrité, au lieu de me condamner comme tant d’autres à gagner un semblable pain à la sueur de mon front.»188
Ausserdem ärgerte sich Angeville über eine «Horde» bettelnder Kinder, welche die «Poesie» der schönen Gegend verdürben, indem sie einer Beschäftigung nachgingen, die ihrer Ansicht nach jungen, arbeitsfähigen Menschen schlecht anstand und sie zum schlimmsten Laster, der Faulheit, erzog.189 Die Aristokratin riet ihren Lesern, keine Almosen zu geben, um die Kinder in ihrem Treiben nicht noch zu ermutigen. Wenn eines aber Kristalle oder Blumen anbiete, solle man ruhig kaufen, denn: «C’est un petit industriel. Encouragez-le dès son début.»190 Damit predigte Angeville bürgerliche Leistungsideologie in Reinkultur: Noch der jüngste und mittelloseste Spross der Unterschicht konnte es demnach also durch eigenen Erfindungsgeist und Unternehmertum zu etwas bringen.
Auch die bereits mehrfach erwähnte Marie Paradis kam in Angevilles offiziellem Tourenbericht schlecht weg. Die Adelige machte den Unterschied zwischen sich und der Einheimischen sehr deutlich: Zwar nannte sie Paradis ihre «Schwester vom Mont Blanc», doch liess sie die Einheimische darauf sofort entgegnen: «Ah! qui aurait cru qu’une dame pût aller là?»191 Es handelte sich also um zwei sehr ungleiche Schwestern: Hier die Dame, die Aristokratin, dort die Einheimische, die Dienstmagd. Und die Magd konnte angeblich kaum glauben, dass eine Dame körperliche Strapazen so gut zu ertragen vermochte: Als Angeville von ihrer Expedition berichtete, habe Paradis ausgerufen: «Dieu! Que vous êtes robuste!»192– für die Aristokratin eine weitere Bestätigung, dass die Einheimische offenbar keinen Sinn für die ideellen Voraussetzungen und Ziele des Bergsteigens hatte, sondern die Expedition als eine rein körperliche Angelegenheit ansah. «Pour cette femme, je suis une dame robuste, et voilà tout! Elle ne voit rien là-derrière, rien audelà!»193 Sogleich belehrte Angeville Paradis, ein eiserner Wille sei eben wichtiger als alle Körperkraft: «Dans les choses faisables, rien n’est impossible à qui veut bien, ma bonne […].»194
Angeville zeichnete Paradis zudem als kaum des Französischen mächtig, beteuerte aber, die Worte der Einheimischen originalgetreu wiedergegeben zu haben, «sans embellir les paroles ou poétiser la personne de cette bonne vieille».195 Stets betonte sie die Standesunterschiede und naturalisierte diese, indem sie Paradis mit Tieren verglich und sie etwa sagen liess: «Je soufflais droit comme les poules quand elles ont trop chaud.»196 Und genau wie einem Tier habe es der Einheimischen am eigenen Willen gemangelt, nach oben zu gelangen: Ihre Begleiter habe sie gebeten: «Fichezmoi dans une crevasse et allez où vous voudrez.»197
Ganz anders beschrieb Angeville sich selbst, indem sie berichtete, dass sie lieber den Tod in Kauf genommen hätte, als ihr Ziel aufzugeben. Sogar als man ihr anbot, sie das letzte Stück des Weges zu tragen, habe sie abgewehrt. Sie hielt dies für einen «affront»: «[…] j’entends faire l’ascension entièrement sur mes jambes; beau mérite vraiment d’aller au Mont-Blanc sur le dos d’autrui!», meinte sie.198 Die Tatsache, auf «eigenen Beinen» und durch eigenen Willen auf den Berg hinauf gelangt zu sein und dort oben eigene Beobachtungen angestellt zu haben, wurde somit für Angeville zum wichtigen Unterscheidungskriterium, mittels dessen sie Paradis als Konkurrentin ausschliessen konnte. Um sich diesbezüglich vollends abzusichern, hielt sie zudem fest, Paradis selbst habe laut und deutlich gesagt: «[…] je ne compte pas moi: y m’ont trainée, tirée, portée, etc., au lieu qu’elle y a été toute seule sur ses jambes la Dame.»199 Weshalb die Einheimische überhaupt auf den Montblanc gewollt habe, habe sie nie verstanden, schrieb Angeville, obwohl Paradis ihr genauestens erklärt hatte, dass sie sich finanzielle Vorteile davon versprochen hatte, berühmt zu werden: «Quand on est pauvre, […] on fait bien comme on peut pour gagner sa petite vie.»200 Doch diese Motivation liess Angeville nicht gelten. «C’était tout simplement une spéculation dont l’idée lui fut suggérée par autrui», urteilte sie. «Tout ceci est bien prosaïque, j’en conviens, mais au moins il y a franchise et naïvité dans le récit de la pauvre montagnarde.»201
Weshalb stellte Angeville die Einheimischen in ihrem Tourenbericht so viel negativer dar als in ihrem Tagebuch? Ich meine, dies hängt damit zusammen, dass sie den Bericht für eine breite Leserschaft verfasste, deren Erwartungen sie zu erfüllen trachtete. Sie orientierte sich dazu an den Stereotypien des alpinistischen Diskurses und porträtierte sich selbst als heroische Montblanc-Erstbesteigerin. Was Angeville mit Paradis in ihrem Bericht machte, nennen Ethnologen othering: Gemeint ist die Definition und Absicherung der eigenen Identität durch die Stigmatisierung und Marginalisierung von «anderen» mittels Stereotypien. Dabei wird alles betont, was die Differenz zwischen dem «wir» und den «anderen» aufrechterhält, sei es das Geschlecht, die angebliche «Rasse» oder wie hier die Standeszugehörigkeit und die geografische Herkunft. Mir ist deshalb schleierhaft, wie der englische Historiker Simon Schama nach der Lektüre von Angevilles Bericht zum Schluss kommen konnte, es hier mit einem Beispiel standesübergreifender Frauensolidarität zu tun zu haben.202 Paradis war für Angeville einfach eine von vielen Einheimischen, von denen sie sich in ihrem Bericht abgrenzte, um sich selbst als «Entdeckerin» des Montblanc darzustellen.
Angevilles Beispiel belegt, wie nahe das Lob der Bergler als edle Wilde und ihre Kritik als rückständige, faule Hinterwäldler beieinander lagen: Es sind die zwei Seiten derselben Münze, und beide beruhen darauf, die Bergbewohner