Ihr
Jürgen Fliege
Vorwort
Um neun Uhr heulten die Sirenen. In der Nähe unseres Wohnhauses, Auf dem Busch 1 in Bielefeld, stand die Papierfabrik Feldmühle, und dort begann Punkt neun Uhr mit Sirenengeheul die Frühstückspause. Und genau um neun Uhr wurde ich geboren – am 12. November 1959. Ich bin also ein echter Skorpion mit Aszendent Schütze. Jeder, der ein bisschen was von Astrologie und Astronomie versteht, kennt die Besonderheit dieser Konstellation. Curd Jürgens war so ein Mensch, die Maler Paul Klee und Wassily Kandinsky, Mark Twain und Frank Zappa – und ich …
Skorpione mit Aszendent Schütze zeichnen sich auf jeden Fall durch unermüdliches Arbeiten für die Weiterentwicklung aus. Weil die Ansprüche so hoch sind, gibt es hin und wieder Streit mit kleinkarierten Menschen. Als Partner eignet sich ein beweglicher Mensch, der sowohl leidenschaftlich ist als auch geistige Interessen hat.
Auf den Kanaren, Fuerteventura, habe ich die Sterne gesehen. Kassiopeia, Andromeda, Orion, Fische und Widder. Das finde ich eigentlich noch faszinierender als die Astrologie, obwohl beides sich gut verbinden lässt. Ich werde immer irgendwo auf dieser Welt leben, wo ich nachts die Sterne observieren kann. Ich schlafe dann einfach besser ein, wenn ich über mir ein Sternenzelt weiß, fühle mich behütet, geborgen, aber geboren wurde ich mit Sirenengeheul …
Meine Kindheit und Jugend war geprägt durch Umzüge: Peine, Salzgitter, Schöningen. Aber meine Liebe zur Naturheilkunde hat sich schon ganz früh gezeigt. Als ich 15 Jahre alt war, sagte meine Mutter: „Du solltest Heilpraktiker werden.“ – „Nein“, habe ich gesagt, „ich will Abitur machen und studieren! Das bräuchte man bei so einem Beruf wie Heilpraktiker ja gar nicht.“
Aber mein Interesse für Naturheilkunde war immer da. Andere haben Romane gelesen, ich alles über Natur und Heilen. Über tausend Werke standen in meinen Regalen. Die anderen gingen zur Tanzstunde, ich las nach über Arnika und Fingerhut.
Als ich 28 Jahre alt wurde, klopfte das Schicksal an meine Tür. Wir machten Urlaub in den Alpen, im Dorf Tirol. Ich hatte mein Abitur in der Tasche, studierte Wirtschaft in Braunschweig und war mit meinem Leben eigentlich zufrieden. Dennoch: Ich spürte, dass Zahlen, Gewinn und Verlust, Mark und Pfennig nicht „mein Ding“ waren, ich wollte mehr: mehr wissen, mehr helfen, mehr heilen – Skorpion-Schütze eben. Ich war auch Simultanübersetzerin für Englisch und Spanisch. Das war ein bisschen weite Welt, das mochte ich.
Aber da kam Karl, ein 63-jähriger Heilpraktiker aus Bad Pyrmont, er war früher beim RIAS in Berlin. Er saß am Nebentisch und schaute mich unentwegt an. Das spürt man, wenn jemand dich fixiert, er glotzte nicht, er hatte den gewissen Blick. Ich nenne es mystisch – der hat was, der ist interessant. Wir kamen ins Gespräch und waren uns sympathisch. Am nächsten Abend beim Törggelen, dem Genuss des neuen Weins unmittelbar nach der Lese, wurde Karl deutlich und ging zum vertrauten Du über. „Nimm ein paar von diesen Kügelchen“, sagte er, ich hatte wohl ein oder zwei Glas zu viel getrunken. Karl merkte das. „Wenn du diese Kügelchen nimmst, bist du schlagartig wieder nüchtern.“ Das Wundermittel hieß Nux vomica, die Brechnuss. Es wirkte wirklich Wunder. Mir war schlagartig wieder gut. Wer war dieser Mann?
Am nächsten Tag sollte ich es genau erfahren, während eines Ausflugs durch die Tiroler Bergwelt. „Stopp“, rief er, „wir gehen auf die Bergwiese.“ Wir setzten uns inmitten von unzähligen Blumen, Pflanzen und Kräutern nieder. Und Karl zog alle Register: Diese Blume heißt so, sie bewirkt das, man muss sie reiben, kochen, stampfen. Es wurde ein Ausflug in die Welt der Naturheilkunde, dem Himmel so nah, auf den Bergen so hoch. Doch Karl konnte noch mehr: Er konnte meine Gedanken lesen, eine Art Telepathie, nach so kurzer Zeit des Kennenlernens. Wir haben Experimente gemacht. Ich sagte ihm ein paar Sätze und er vollendete sie. Wir hatten eine sehr starke seelische Verbindung, die später in eine Freundschaft führte. Ich konnte mit ihm meinen Wissensdurst stillen. Er war mein väterlicher Freund, Vater, Meister. Das ging über Jahre, bis Karl verstarb. Das Herz!
Ein großer Schmerz. Er hat mir immer gesagt: „Mein liebes Sabinchen: Ich umarme dich, ich küsse dich und umhülle dich mit dem Mantel meiner Liebe.“ Diesen Satz sagte Karl nach jedem Telefonat, und ich fand das schön. Ich wollte ihn Weihnachten beschenken, kaufte ihm seinen Lieblingswhiskey, einen Irish Malt Whiskey, der in Châteauneuf-du-Pape-Rotwein-Fässern gelagert wurde.
Karl hatte wohl eine Todesahnung, er sagte: „Ach, Sabinchen, wenn ich sterbe … Macht nichts, wir beide werden über den Tod gedanklich verbunden sein.“
Das war vor 18 Jahren. Meinen größten Erfolg, für den er den Grundstein gelegt hatte, bekam er nicht mehr mit. Die Bestallung, die Heilpraktiker-Prüfung. Gefürchtet, verdammt, gehasst, denn sie ist so schwer, dass es Durchfallquoten von bis zu 99 Prozent gibt. Ich finde es gut, wenn von den Prüflingen viel abverlangt wird, immerhin „behandeln“ wir Menschen und deren Leiden. Aber manchmal sind die Fragen dermaßen verquer und das Verhalten der Prüfer so arrogant, dass einem gleich das Herz in die Hose rutscht und man stottert und flattert.
Die Prüfung: Ein Apotheker aus Gifhorn rief mich an. „Frau Linek, ich möchte Ihnen eine Praxis anbieten. Ich höre so viel Gutes von Ihnen.“ – „Schön, aber ich habe noch gar keine Prüfung gemacht …“ – „Ja, dann wird’s aber Zeit …“
Ich nutzte die Zeit und bewarb mich zur Prüfung in Husum an der Nordsee. Es kamen 13 Bewerber und ein Amtsarzt sowie ein Heilpraktiker als Prüfer: Sie wollten einfach, dass alle durchfallen. Aus Geldgründen. Und so kam es: Alle 13 fielen durch. Ich war tief enttäuscht und bewarb mich um eine neue Chance bei einer neuen Prüfung in Stralsund an der Ostsee.
Diesmal wählte ich eine andere Strategie. Ich beschäftige mich ja auch mit Esoterik, Übersinnlichem und mit Engeln. Die geben manchmal Hinweise, wie man das Leben meistern kann, auch in Prüfungen …
In diesem Fall war es ein Lied: „Du schaffst es“ von Juliane Werding. „Augen zu und durch – du schaffst es.“ Mit dem letzten Ton stand ich vor dem Prüfungsgebäude in Stralsund. Die Sekretärin erwartete mich mit den Worten: „Sie müssen Frau Linek sein, das sehe ich, Sie schaffen es!“
Noch ein Engel auf meinen Schultern. Die schriftliche Prüfung war eher leicht, so leicht, dass ich einem Mitprüfling bei der Beantwortung der Fragen half – z.B. über die Auskultationspunkte des Herzens, Migräne, Blut. Ich war bestens vorbereitet, andere rasselten schon in der schriftlichen Prüfung durch. Es waren zwölf Prüflinge, einige heulten, konnten Fragen nach Kopfschmerzen nicht beantworten. Trigeminus, das wussten einige, aber leichte Zusatzfragen wurden mit Schulterzucken beantwortet. Ergebnis: Mittags um zwölf gab es nur noch eine Kandidatin, die es bis zur mündlichen Prüfung geschafft hatte. Das war ich.
Ich wurde gleich in die Mangel genommen: links die Amtsärztin, rechts der Heilpraktiker. Sie, sehr nett, er … nicht so: „Bisher hab ich nur Schrott gehört, und die wollen alle Heilpraktiker werden.“
Aber ich war sehr gut vorbereitet. Ich parierte alle Fragen glänzend, das ärgerte ihn, und er wollte alles über Anämie, über Blutarmut, wissen. „Erzählen Sie doch mal was über Megaloblasten …“ – „Ja,“ habe ich gesagt, „die Patienten haben so eine gelbliche Farbe, Vitamin-B12-Mangel …“ – „Nein, die haben keine gelbliche Farbe.“ – „Doch, meines Wissens haben die eine gelbliche Farbe … weil Leber und Galle … arbeiten doch auch nicht gut.“ – „Nein.“ Die Ärztin griff ein: „Frau Linek hat recht.“ Da wurde er wütend. „So, Frau Linek, ich will jetzt keine Herleitung haben, ich möchte sofort die Antwort haben, sofort, keine Überlegung.“ Er wollte mich fertigmachen. Ich rief die Engel an: „Steht mir bei!“ Er: „Patient kommt in Ihre Praxis,