Geist und Leben 2/2016. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429062743
Скачать книгу
bei den Loreto-Schwestern keine verlorene Zeit waren, dass sie jedoch an jenem Septembertag des Jahres 1946 zum eigentlichen Kern ihrer Berufung gefunden hat. Unabhängig von der Frage, ob ihre Erkenntnis punktuell erfolgt ist oder ob sie nicht auch das Ergebnis eines längeren Prozesses war, hat der Inspiration Day seinen Ausgangspunkt in der Erkenntnis, dass der leidende Christus besonders in den Armen anwesend ist; pflegt man deren Wunden und schenkt ihnen Trost und Mitgefühl, dann pflegt man die Wunden des leidenden Christus und schenkt ihm Zuwendung – genau hiernach sehnt sich Jesus und dürstet er.

      In der Spiritualität des Ordens bilden das kontemplative Leben und der Einsatz für die Ärmsten eine tiefe Einheit, denn in beiden Vollzügen zeigen die Schwestern Jesus ihre Liebe. Mutter Teresa legt großen Wert darauf, dass das geistliche Leben der Schwestern die Antriebskraft und die Mitte ihres sozialen Engagements ist und sie sich hierin etwa von Sozialarbeiterinnen unterscheiden.12 In diesem Zusammenhang sind ihr zwei Begriffe wichtig, die dem heutigen Lebensgefühl fremd, der Spiritualität jener Zeit jedoch sehr geläufig waren: Selbstaufgabe und Sühne. Selbstaufgabe meint für sie die Bereitschaft, von sich selbst abzusehen und sich immer wieder neu dem Ruf Jesu zu stellen – sei es im Dienst an den Armen oder in der Kontemplation. Mit der inneren Haltung der Selbstaufgabe hängt zusammen, dass gemäß der Ordensregel von 1947 jede Schwester in ihrem Einsatz für Gott und die Ärmsten der Armen ein „Sühnopfer Christi“ sein soll: „Wir müssen Gott alles oder nichts geben und diese totale Hingabe aufrechterhalten – koste es, was es wolle.“13 Für Mutter Teresa ist die Hingabe- und Opferbereitschaft der Schwestern eine Antwort auf jene Liebe, mit der Christus jede zuerst geliebt hat. Sie ist zutiefst überzeugt, dass das Apostolat der Schwestern besonders mittels dieser spirituellen Grundeinstellung fruchtbar und zum Segen für andere wird.

       Dem Geliebten nichts verweigern

      Mutter Teresas Beziehung zu Jesus hat etwas zutiefst Bräutliches. Ausdruck ihrer leidenschaftlichen Liebe ist ein Privatgelübde, das sie im April 1942, viereinhalb Jahre vor dem Inspiration Day, mit Zustimmung ihres Beichtvaters abgelegt hat.

      In einem Brief an Erzbischof Ferdinand Périer von Kalkutta vom 1. September 1959 erinnert sie sich: „Ich legte ein Gelübde ab, das mich bei Strafe einer Todsünde verpflichtete, Gott alles zu geben, was Er verlangen sollte: ‚Ihm gar nichts zu verweigern.‘“14 Als Grund hierfür erwähnt sie in einem anderen Brief an P. Neuner, dass sie Gott etwas sehr Schönes geben wollte.15 Bis zu ihrem Tod bemühte sie sich darum, dem Privatgelübde treu zu bleiben. Sie steht auch hiermit in der Tradition Therese von Lisieuxs, die nach eigenen Angaben bereits mit drei Jahren angefangen hatte, nichts von dem zu verweigern, was Gott von ihr wollte.16

      Weil sich Mutter Teresa seit dem Inspiration Day ihrer Sendung sicher ist und sie Jesus nichts verweigern möchte, muss sie alles daran setzen, die „Berufung in der Berufung“ Wirklichkeit werden zu lassen. Als erstes sucht sie Erzbischof Périer von Kalkutta zu überzeugen; denn an ihm liegt es, in Rom die nötigen Schritte einzuleiten. Nach Rücksprache mit ihrem geistlichen Begleiter berichtet sie ihm in einem Brief vom 13. Januar 1947 in großer Offenheit über ihre Erfahrungen im September zuvor. Sie ist sich sicher, die Stimme Jesu vernommen zu haben, der zu ihr spricht: „Ich möchte indische Missionaries of Charity – die mein Feuer der Liebe sein werden unter den ganz Armen – den Kranken – den Sterbenden – den kleinen Straßenkindern.“17 Als sie ungeduldig auf eine Entscheidung wartet, mahnt sie der Erzbischof zu Geduld, da er die Echtheit ihres Ansinnens gewissenhaft prüfen möchte. Trotz aller Ungewissheit wird ihr in dieser Phase ihres Lebens eine Gemeinschaft mit Jesus „in vollkommenem Frieden und in vollkommener Freude“18 geschenkt. Die geistlichen „Flitterwochen“ enden in etwa dann, als sie für ihr Werk „grünes Licht“ bekommt.19 Von da an wird sie jahrzehntelang – mit einer einmonatigen Unterbrechung – unter dem schmerzlichen Gefühl der Abwesenheit Gottes leiden, obwohl das von ihr initiierte Werk seinen positiven Lauf nimmt und sie äußerlich gesehen allen Grund zur Freude hätte.

      Gleichwohl kam für Mutter Teresa die Erfahrung der „dunklen Nacht“ nicht wie aus heiterem Himmel. Zeiten geistlicher Trockenheit waren ihr auch bei den Loreto-Schwestern nicht fremd. Dies bezeugt ein Brief vom 8. Februar 1937, den sie drei Monate vor ihren Ewigen Gelübden an ihren ehemaligen Heimatpfarrer und Beichtvater, P. Franjo Jambreković SJ, geschrieben hat: „Glauben Sie nicht, dass mein spirituelles Leben auf Rosen gebettet ist – diese Blume entdecke ich so gut wie gar nicht auf meinem Weg. Ganz im Gegenteil, ich habe öfters die ‚Dunkelheit‘ als meine Gefährtin. Und wenn diese Nacht besonders tief ist – und es mir scheint, als ende ich in der Hölle – dann bringe ich mich einfach Jesus dar. Wenn Er will, dass ich dorthin gehe, dann bin ich bereit, doch nur unter der Bedingung, dass es Ihn wirklich glücklich macht.“20 Gleichzeitig betont sie, wie glücklich sie ist und dass sie ihre Leiden um keinen Preis der Welt aufgeben möchte.21

      Spätestens seit dem Inspiration Day ist ihr klar, dass Erfahrungen von Dunkelheit sie künftig begleiten werden. Gemäß dem Brief an Périer vom Januar 1947 hat Jesus ihr signalisiert: „Deine Berufung ist es, zu lieben und zu leiden und Seelen zu retten, und indem du diesen Schritt tust, wirst du meinen Herzenswunsch an dich erfüllen (…) Du wirst leiden und du leidest jetzt – doch wenn du meine eigene kleine Braut bist – die Braut des gekreuzigten Jesus – wirst du die Qualen in meinem Herzen ertragen müssen. Lass mich handeln.“22 Auf dem Hintergrund ihres Privatgelübde sind auch folgende Worte Jesu verständlich, die sie so wiedergibt: „Du sagst immer zu mir ‚tu mit mir, was du willst‘ – Nun möchte ich handeln – Lass es mich machen (…) Willst du mich zurückweisen?“23

       Gedanken wie scharfe Messer

      Ab dem Jahr 1949 oder 1950 – den exakten Beginn datiert sie nicht – muss Mutter Teresa ein knappes halbes Jahrhundert lang bis zu ihrem Tod am 5. September 1997 die „dunkle Nacht“ durchleben. Nur einen Monat wird diese scheinbare Gottesferne unterbrochen: Im Oktober 1958 bittet sie Gott um ein Zeichen, dass er mit ihrer Kongregation zufrieden sei. Tatsächlich verschwinden die Dunkelheit und die Leiden der letzten Jahre.24 Dieser Trost ist jedoch nicht von langer Dauer; bereits am 16. November 1958 schreibt sie: „Unser Herr meinte, es sei besser für mich, im Tunnel zu sein, so ist er also wieder gegangen, und hat mich allein gelassen. Für den Monat der Liebe, den er mir schenkte, danke ich ihm.“25

      Hinsichtlich der Frage, welche Empfindungen und Gedanken sich ihrer in der „dunklen Nacht“ bemächtigt haben, ist ein schriftlich formuliertes Gebet aufschlussreich, das sie Ende der 50er Jahre formuliert hat und in dem es eindrücklich heißt: „Das Kind Deiner Liebe, das nun meistgehasste, dasjenige, das Du weggeworfen hast als unerwünscht, ungeliebt (…) Die Einsamkeit des Herzens, das nach Liebe verlangt, ist unerträglich. – Wo ist mein Glaube? – Selbst tief in meinem Innersten ist nichts als Leere und Dunkelheit. Mein Gott, wie schmerzhaft ist dieser unbekannte Schmerz. Es schmerzt ohne Unterlass (…) Wenn ich versuche, meine Gedanken zum Himmel zu erheben, erlebe ich eine solch überzeugende Leere, dass diese Gedanken wie scharfe Messer zurückkehren und meine innerste Seele verletzen. – Liebe, das Wort, es bringt nichts. Man erzählt mir, dass Gott mich liebt, jedoch ist die Realität von Dunkelheit und Kälte und Leere so überwältigend, dass nichts meine Seele berührt.“26 Trotzdem kündigt sie die Gottesbeziehung nicht auf, indem sie die Spannung zwischen der Sehnsucht nach dem, wie Gott ihr früher einmal seine Nähe geschenkt hatte, und dem gegenwärtigen Gefühl der Gottverlassenheit aushält. Irgendwie vertraut sie darauf, „dass alles im Himmel mit Jesus enden wird“; und spricht ihre Bereitschaft aus, „mit Freuden all das anzunehmen bis zum Ende meines Lebens“27.

      Es wäre eine gravierende Fehldeutung, Mutter Teresas Seelenzustand als Symptom einer depressiven Persönlichkeitsstruktur zu verstehen. Denn eine Depression erfasst den ganzen Menschen und manifestiert sich in lähmender Antriebslosigkeit. Hiervon kann jedoch angesichts ihres Tatendrangs keine Rede sein. Selbst ihre engsten Mitarbeiterinnen wussten von ihrem Seelenzustand nichts. Fremde Menschen, denen sie oft ein Lächeln schenkte, gingen innerlich gestärkt aus einer Begegnung mit ihr heraus. Sie selbst hat ihr Lächeln einmal charakterisiert als „großer Deckmantel, der eine Vielzahl von Schmerzen verbirgt“28.