Geist & Leben 4|2020. Echter Verlag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Echter Verlag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429064709
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des Konvents bildeten und die Rolle als Oberhaupt desselben einnahmen. Die Karmelitinnen legten ihre Gelübde vor dem privaten Jesulein Teresas ab, das man „el Mayorazgo“ („der Familienälteste“) nannte. Ihm schenkten die Schwestern außerdem am Jahresende ein Säckchen, damit er im neuen Jahr in seiner unübersehbaren Rolle als Hauspatron und Versorger weiterhin für die Frauen Sorge trage.10

      Ebenso erhoben die Maria-Hueber-Schwestern das Jesulein der Gründerin gleichsam zum „Gnadenkind“ der gesamten Gemeinschaft. Denn neben wundersamen Legenden ist belegt, dass die Anwärterinnen dem Sujet als Mitgift ihren Schmuck, vor allem ihre Ringe, vermachten, der am Postament befestigt wurde. Außerdem „bestellten“ Frauen der Stadt beim Jesulein Novenen, sodass sich seine Strahl- und Wirkkraft nicht nur auf das Kloster beschränkte.11

      Klar ist, dass diese kollektiv verehrten Statuen eine spirituelle Bezugsperson sowie die (geistlich präsente) „symbolisch-rituelle Autorität“12 der Kommunität bildeten. Der Umstand, dass in manchen Gemeinschaften der „Hausherr“ des Klosters auf dem Platz der Äbtissin positioniert wurde, zeigt, dass er in der klösterlichen Hierarchie die oberste Stelle einnahm und damit in Konkurrenz zur Oberin, aber auch zum Superior, dem die Frauengemeinschaft unterstellt war, trat. Auf diese Weise konnten sich die Schwestern von unliebsamen Leitungsinstanzen distanzieren und emanzipieren, indem sie – zwar nur symbolisch – subtil an die Stelle der Klostervorsteher eine andere, mächtigere, von menschlichen Interessen unabhängige und sich um das Wohl jeder einzelnen Schwester sorgende Figur setzten, und zwar Gott selbst in Gestalt des Jesuleins. Dieses, und eben nicht die oftmals allzu menschlichen Vorgesetzten, die Oberin oder der Superior, war nun das Oberhaupt des Klosters, der oberste Befehlshaber, der Weisung gab, Recht sprach und dem Gehorsam gebührte; alle anderen Autoritäten waren nur dessen Stellvertreter. Die Hinwendung zum Jesuskind sowie die Anerkennung seiner universalen Macht boten den Verehrer(inne)n eine ungehinderte Begegnung mit dem Göttlichen, eine neue, grenzenlose Freiheit ohne Scheu vor gesellschaftlichen sowie kirchlichen Zwängen.

      Eine Spiritualität für die heutige Zeit?

      Spiritualität ist Gottsuche, das Voranschreiten im Leben, Glauben und Fühlen mit der drängenden existenziellen Frage: „Wo bist du, Gott?“ Die sehnsuchtsvolle Suche, also der Mangel, nicht der Reichtum, ist der Ausgangspunkt. Michel de Certeau13 weist darauf hin, dass sich die Menschen (der Neuzeit gleichermaßen wie heute?) stets neue Körper schufen und schaffen, um den Schmerz, dass Jesus Christus nicht direkt greifbar, nicht leibhaftig anwesend ist, zu kompensieren: Devotionalien, Statuen, Riten, Orte, Persönlichkeiten, Glaubensmeinungen usw. Es geht nicht darum, diesen Wunsch zu verleugnen oder gar zu verurteilen. Die Jesulein-Devotion zeigt dieses elementare Bedürfnis nur präzise auf und bietet Bewältigungsmöglichkeiten, insofern die Objekte eine haptische Erinnerung an das Charakteristikum des christlichen Glaubens sind: dass Gott in der Person Jesu Christi Mensch geworden ist und seine Welt – so wie sie ist, samt ihrer elenden Misere – bejaht.

      Die winzigen, aufwendig bestickten Kleidchen sowie die mütterlich-protegierenden Rituale des Kindleinwiegens, -bettens und -küssens konfrontieren uns mit unseren inneren Widerständen, unseren Grenzen im Verstehen und Nachvollziehen sowie unserem Unvermögen, uns in historisch ferne Frömmigkeitsformen, in das Empfinden und Erfahren frühneuzeitlicher Frauen und Männer einfühlen zu können. Diese Fremdheit gilt es auszuhalten. Handelt es sich bei diesen Praktiken um subtile Sublimation unterdrückter sexueller Gefühle oder nicht ausgelebter Mutterinstinkte? Zeugen diese Statuen, Kleidchen und Accessoires von einem infantil gebliebenen Glaubensleben? Hier sind vorschnelle Urteile fehl am Platz. Denn die Jesuskind-Spiritualität motiviert zu einer reflektierten, möglichst unvoreingenommenen, vorurteils- und wertfreien Auseinandersetzung mit Frömmigkeitsformen vergangener Zeiten, die Generationen unserer Vorfahren jahrhundertelang geprägt und geistlich genährt haben. Diese Spiritualität kann uns schmerzlich unser oft zwanghaftes Bedürfnis, Personen, deren Glauben und religiöse Praxis zu kontrollieren, vor Augen führen, d.h. im Grunde unser Streben, Gott und seiner Macht habhaft zu werden. Die spielerische, sinnliche Interaktion mit den materiellen Objekten zeigt auf, dass es jenseits der offiziell vorgeschriebenen, nach außen besonders tugendhaft wirkenden, teils zur Schau gestellten Frömmigkeit immer Nischen sowie Refugien gibt und geben muss, in denen die zutiefst persönliche Beziehung zum menschgewordenen Gott fern aller Normen und (sinnvollen) Riten auf intime Weise praktiziert und vollzogen wird.

      Die Aktualität der Jesuskind-Frömmigkeit liegt nicht darin, frühneuzeitliche Praktiken zu imitieren und sie irgendwie, mehr schlecht als recht zu „modernisieren“, sondern im Eingeständnis der Notwendigkeit, phasenweise im Rahmen der Gottsuche auf materielle Hilfen als Zeichen der göttlichen Präsenz im eigenen Leben zurückgreifen zu müssen und zu dürfen. In der Beschäftigung mit dem Jesulein wird das Angewiesensein auf ein göttliches Du, das sich menschlicher Sprache und Kommunikation bedient, um sich verständlich zu machen, bewusst. Wir erfahren in unserer erlösungsbedürftigen Schwachheit und Begrenztheit die solidarische Nähe Jesu, der sich freiwillig als wehrloses Kind den Menschen und der Welt aussetzt und uns seine bedingungslose Liebe offenbart. Inmitten unserer Unzulänglichkeit sind wir jederzeit gehalten und mit seiner Gegenwart beschenkt. Niemandem sind unfrei machende, einengende Strukturen und Beziehungen fremd. Sich als christlich gesinnter Mensch Gott restlos und vorbehaltslos anzuvertrauen, befreit und entlastet, denn er ist die uneingeschränkte göttliche Autorität, die jede menschliche Macht überragt. Das Jesulein, das wehrlose, bedürftige, sich nach unserer Liebe sehnende Kind ist der absolute Herr. Dieses Paradox kann Leben und Wirken nähren, Kraft schenken sowie neue Horizonte eröffnen.

      Nicht zuletzt erinnert diese Frömmigkeit daran, dass Leichtigkeit und Sinnlichkeit auf keinem echten spirituellen Weg fehlen dürfen. Das affektive Spiel mit den Statuen führt uns vor Augen, dass Gott voll freudiger, unbefangener Sehnsucht nach seinem geliebten Geschöpf ist, ohne Ansprüche oder Erwartungen. Gott will, dass der Mensch (vor und mit ihm) lebt, schlicht und einfach ist, und er hat – wie Maria Hueber es ausdrückte – „keine größere Freude als bei den Menschen zu sein, und alle sollen mit Freude zu ihm kommen“14.

      1 Dieser Beitrag stützt sich auf meine kirchenhistorische Promotionsarbeit, die unter der Betreuung von Prof. Günther Wassilowsky entstand: A. E. Rifeser, Die Frömmigkeitskultur der Maria Hueber (1653–1705) und der Tiroler Tertiarinnen. Institutionelle Prozesse, kommunikative Verflechtungen und spirituelle Praktiken (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 172). Münster 2019, 407–524.

      2 Zit. n. J. a Cruce, Das Jesulein im Theresianischen Karmel. Wil 1965, 142.

      3 Brief Nr. 726 (02.02.1942), in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hrsg.), Edith-Stein-Gesamtausgabe. Bd. III: Selbstbildnis in Briefen. Teil II (1933–1942). Freiburg i. Br. 2000, 531.

      4 Siehe dazu A. E. Rifeser, Frömmigkeitskultur, 407–445 [s. Anm. 1].

      5 M. de Certeau, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin 2010, 135.

      6 W. Gombrowicz, Kosmos (Witold Gombrowicz. Gesammelte Werke, 4). Hrsg. v. R. Fieguth u. F. Arnold. München – Wien 1985, 136.

      7 M. de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin 1988, 11–32; 85–97.

      8 J. a Cruce, Jesulein, 21 f. [s. Anm. 2].

      9 A. E. Rifeser, Frömmigkeitskultur, 504–508 [s. Anm. 1].

      10 J. a Cruce, Jesulein, 30 [s. Anm. 2].

      11 A. E. Rifeser, Frömmigkeitskultur, 466–494 [s. Anm. 1].

      12 G. Wassilowsky, Symbolische Repräsentation von Amt und Autorität im Papsttum, in: M. Remenyi (Hrsg.), Amt und Autorität. Kirche in der späten Moderne. Paderborn u.a. 2012, 33–51, hier: 33.

      13 M. de Certeau, Fabel, 7; 124–148; 487 f. [s. Anm. 5].

      14 Brief M. Huebers (04.12.1701), zit. n. A. E. Rifeser, Frömmigkeitskultur, 512 [s. Anm. 1].

      Schmerz, Hoffnung und Barmherzigkeit

      Maria