»Darf ich dir einen Drink spendieren?«, fragte der Frontman der Band, der plötzlich hinter Marion und Albert auftauchte. Seine rot gefärbten Haare hatte er auf einer Seite wegrasiert, dafür trug er sie auf der anderen umso länger. Die Klamotten, die er anhatte, waren aus Leinen gefertigt und der breite Gürtel aus weichem Rindsleder. Das Outfit könnte gut und gerne aus jener Zeit stammen, die er und seine Band ein Stück weit aufleben lassen wollten. Und das taten sie mit Erfolg, das musste Marion zugeben.
»Du weißt schon, dass die Getränke für die Braut gratis sind?«, erwiderte sie lachend.
»Klar weiß ich das. Das ist auch nur so eine Anmache, die du sicher kennst«, konterte der Sänger.
»Natürlich kenne ich die, genau wie dich, Goliat, aber deine Anmache ist halt nicht sonderlich originell«, erwiderte Marion. Die Melancholie von vorhin war wie weggeblasen. Sie wollte nur noch im Hier und Jetzt existieren. »Von einem wie dir hätte ich etwas anderes erwartet.«
»Ja? Was denn?«
»Keine Ahnung.« Marion zuckte mit den Schultern.
»Ich könnte dir ein Lied trällern …«
»Oh ja, genau darauf hab ich gewartet.«
Goliat stimmte einen schmalzigen Liebessong an.
»Sei still! Die anderen schauen schon«, lachte Marion.
Goliat verstummte, ebenso in bester Laune. Es war ihm anzusehen, dass er Freude daran hatte, im Mittelpunkt zu stehen. Das war er als Frontman der Band gewöhnt. »Was willst du trinken?«
»Einen Gin Tonic, bitte.«
Goliat bestellte zwei dieser Mix-Getränke und reichte ein Glas Marion. »Was war das denn vorhin?«, fragte er unschuldig und stieß mit seinem Drink gegen ihren.
»Was meinst du?« Marion stellte sich unwissend.
»Der Kuss vor all den Leuten«, erinnerte Goliat sie daran.
Marion schlürfte ihren Gin Tonic. Nach einer Weile sagte sie: »Mir war einfach danach.«
»Tust du immer, worauf du gerade Lust hast?«
»Meistens.«
»Das ist gut.« Goliat grinste.
Das Gedränge an der Bar wurde heftiger und jemand rempelte Marion von hinten an.
»Entschuldige«, sagte der blauäugige Ritter, als Marion sich umwandte. Er schob sich durch die Umstehenden an die Bar, um ebenfalls Getränke zu ordern. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie nicht ablesen, ob er sauer auf sie war, weil aus dem Stelldichein nichts geworden war, oder ob er nur ihre Aufmerksamkeit erregen wollte. Sie machte ihm Platz und drückte sich an Goliat, der nicht zurückwich. Es kam ihr sogar vor, als würde seine Hand die Konturen ihrer Beine unter dem Brautkleid nachzeichnen. Ein schlimmer Finger, dachte sie und stellte sich vor, wie selbiger in sie eindrang und sich bewegte.
»Alles okay?«, fragte Goliat, mit dem Glas in der Hand und einem Grinsen im Gesicht, das Marion signalisierte, dass er genau wusste, was sie im Augenblick fühlte.
»Küss mich!«, forderte sie ihn auf.
»Ich werde dich bestimmt nicht ein weiteres Mal vor all den Leuten küssen. Die würden mich lynchen, und darauf hab ich echt keinen Bock.«
»Du bist ein Feigling«, provozierte Marion ihn.
»In fünf Minuten oben in der Hochburg«, raunte er ihr ins Ohr, leerte seinen Gin Tonic und verschwand in der Menge.
Marion stand an der Bar inmitten von 400 Hochzeitsgästen und mit dem Rücken zu ihrem Ritter, dennoch fühlte sie sich allein. Und unsicher. Ob sie Goliat folgen sollte?
»Marion!« Die Stimme ihres Bruders riss sie aus ihren Überlegungen. Im Schlepptau hatte er ihren Ehemann. Sie genehmigte sich einen Schluck, um sich für das Bevorstehende zu wappnen. Danach ging sie auf David und Fabian zu. Die zwei könnten Brüder sein, schoss es ihr durch den Kopf, sie glichen einander im Aussehen wie Zwillinge. Beide hatten blonde Haare, die oben länger und seitlich kurz geschnitten waren, blaugraue Augen und ein markantes Kinn. Marions Haare waren im Gegensatz dazu braun und lockig und reichten ihr bis über die Schultern – heute trug sie sie jedoch mit weißen Perlen verziert hochgesteckt –, und ihre Augen funkelten in einem angriffslustigen Grün. Kaum zu glauben, dass David und sie Geschwister waren.
»Mensch, Marion!«, wiederholte David ihren Namen, und Marion machte sich auf Vorwürfe gefasst.
»Was willst du?«, herrschte sie ihn an.
»Ich bringe dir deinen Ehemann. Du solltest auch mal mit ihm tanzen«, brachte David das Anliegen vor, das sie beide hertrieb, als hätte es Fabian die Sprache verschlagen. Als könnte er nicht für sich selbst eintreten.
»Hörst du vielleicht Musik, zu der wir tanzen könnten?«, maulte Marion.
»Ich finde, ihr solltet euch wie Mann und Frau verhalten, jetzt, wo ihr verheiratet seid«, sagte David Marions Einwand ignorierend. »Die Liebe wird schon noch kommen.«
»Wann?«, keifte Marion ihren Bruder an.
»Irgendwann«, sagte Fabian ruhig. Es waren die ersten Worte, die er seit seinem Ehegelübde an sie richtete. Sie spürte seine Traurigkeit über die Vermählung. Auch wenn sie sonst nichts gemeinsam hatten, diese Traurigkeit einte sie.
»Willst du etwas trinken?«, fragte sie ihn, weil David und Fabian nun schwiegen und die Menschen rundum zu tuscheln begannen. Dabei brachte sie sogar ein Lächeln zustande.
»Gerne. Was trinkst du?« Fabian deutete auf das Glas in ihrer Hand, in dem nur mehr Eiswürfel vor sich hin schmolzen.
»Das war ein Gin Tonic. Willst du einen?«
Fabian nickte.
»Zwei Gin Tonic bitte!«, rief sie dem Barkeeper zu, froh, etwas zu tun zu haben und nicht höfliche Konversation mit ihrem Ehemann treiben zu müssen. Umgehend standen die bestellten Drinks auf dem Tresen. Das war der Vorteil, wenn man die Braut war: Man musste nicht auf die Getränke warten, sondern wurde vorrangig bedient. Einen Drink reichte sie an Fabian weiter.
»Danke«, sagte er.
Klirrend stießen die Gläser aneinander.
»Glaubst du wirklich, dass die Liebe eines Tages kommen wird?«, fragte Marion ihn.
»Wenn es unsere Eltern zulassen, kann das durchaus der Fall sein.«
»Das bezweifle ich.«
»Weshalb?«
»Weil sich mein Vater überall einmischt.«
»Genau wie meiner.«
Wieder klirrten die Gläser.
Als sie getrunken hatten, sagte Marion: »Ich dachte immer, dass nur dort, wo es zum Überleben der Familien dient, die Mädchen zwangsverheiratet werden.«
»Dein Vater bekommt einen Haufen Geld von meinem, damit sein Unternehmen weiterläuft. Das dient doch zum Überleben deiner Familie«, antwortete Fabian.
»Und was hat deine Familie davon?«
»Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit.«
»Was fragst du dich die ganze Zeit?«, ertönte es hinter ihnen. Viktor Hallsteiner war unbemerkt an sie herangetreten und hatte Fabians letzte Worte gehört.
»Nichts, Vater«, antwortete Fabian. Es war unschwer zu erkennen, dass zwischen ihm und seinem Erzeuger nicht das beste Verhältnis bestand. Aber ein Sohn gehorchte, wenn er nicht wollte, dass ihm das Erbe entzogen wurde. Dass ihm bis auf den Pflichtteil alles genommen wurde, was ihm von Geburt an zustand.
»Ich würde es begrüßen, wenn ihr mehr Freude ausstrahlen würdet. Es ist schließlich eure Hochzeit«, sagte Viktor Hallsteiner.
»Jawohl, Vater«, antwortete Fabian gehorsam. »Komm,