Götz bedachte Jona mit einem Blick, den dieser furchtlos erwiderte. Aus dem unsicheren Bettelknaben, den er und Olivera in ihrem Haus aufgenommen hatten, war ein junger Mann geworden, der das Herz am rechten Fleck hatte. Götz verdankte ihm viel. »Ich hätte an deiner Stelle vermutlich genauso gehandelt«, gestand er.
»Soll das heißen, du lässt ihm das einfach durchgehen?«, empörte sich Mathes.
Götz zuckte mit den Schultern. »Jetzt haben wir wenigstens den Ring.«
Mathes war anzusehen, dass er nur mit Mühe eine Verwünschung schluckte.
Götz wusste, wie schlecht er auf Jona zu sprechen war, auch wenn der Junge ihm nach seiner Genesung fast alle Arbeit im Hof und in den Ställen abgenommen hatte. Die beiden teilten sich seit Jahren den Heuboden in einem der Schuppen. Vielleicht war es an der Zeit, Jona eine eigene Kammer zu geben. Er beschloss, auch das mit Olivera zu besprechen. Die Tragweite der Geschehnisse wurde ihm immer mehr bewusst.
»Was hast du mit dem Ring vor?«, fragte Jona.
»Auf keinen Fall werde ich ihn behalten.«
»Du hättest ihn in die Pegnitz werfen sollen«, brummte Mathes.
»Dafür ist es noch nicht zu spät.« Götz erhob sich. »Kein Wort darüber!«, warnte er. »Zu niemandem.«
Kapitel 11
Olivera verfolgte, wie Matthäus die Schröpfköpfe vom Rücken der kranken Clara entfernte und zurück in seine Tasche legte. Das Mädchen hatte immer noch Krämpfe, die sich inzwischen darin äußerten, dass es Arme und Beine nicht mehr ausstrecken konnte. Die Schmerzen, die es litt, mussten unvorstellbar sein, die Schreie wurden immer schlimmer.
Der Priester verfolgte das Schröpfen mit gerunzelter Stirn und trat ans Bett, sobald Matthäus den letzten Schröpfkopf gelöst hatte. »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir«, sagte er salbungsvoll, legte ein schweres Kruzifix zu dem kranken Mädchen ins Bett und griff nach einer Flasche voller Weihwasser. Damit benetzte er die Stirn und fing an, lateinische Gebete zu sprechen.
»Und es ist das Feuer des heiligen Antonius«, hörte Olivera die Magd murmeln.
Sie winkte die junge Frau zu sich und bedeutete ihr, ihr aus der Kammer in den Korridor zu folgen. »Wieso bist du so sicher, dass es sich um das Antoniusfeuer handelt?«, fragte sie.
»Weil die Mönche in meinem Dorf es so genannt haben«, war die Antwort.
Olivera runzelte die Stirn. »Aber es äußert sich nicht auf diese Art.«
Die Magd zuckte mit den Schultern. »Bei uns hatten viele solche Krämpfe. Die Mönche haben sie mit Gebeten und Antoniusbrot geheilt.«
»Antoniusbrot?« Davon hatte Olivera noch nie etwas gehört.
»Es hat nur diejenigen geheilt, bei denen die Krankheit nicht so weit fortgeschritten war«, sagte die Magd. »Die anderen sind elendig zugrunde gegangen.« Sie schlug ein Kreuz vor der Brust. »Die arme Clara. Wenn der Priester ihr nicht helfen kann …« Sie errötete. »Ich meine … Ich wollte nicht sagen, dass …«
»Schon gut.« Olivera winkte ab. Sie schickte die Magd zurück in das Krankenzimmer und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Was, wenn sie recht hatte? Alle bisher verabreichten Arzneien zeigten kaum Wirkung, und ob das Schröpfen half, die Krämpfe zu lindern, blieb abzuwarten. Sie beschloss, nach Hause zu gehen und noch einmal die Bücher und Traktate der gelehrten Ärzte zu Rate zu ziehen. Als Matthäus wenig später ebenfalls auf den Gang hinaustrat, schüttelte er mit einem traurigen Ausdruck den Kopf. »Ich fürchte, all unsere Heilkunst ist vergebens. Vielleicht kann ihr wirklich nur Gott helfen.«
»Ich gebe nicht auf«, widersprach Olivera. Sie erzählte ihm, was die Magd behauptet hatte.
»Das Feuer des heiligen Antonius?« Matthäus schüttelte den Kopf. »Bei dieser Krankheit bilden sich Blasen auf der Haut und die Glieder sterben durch Fäulnis ab. Diejenigen, die ich an diesem Leiden habe sterben sehen, sind zu Fetzen verfault. Sie muss sich irren.«
Olivera gab ihm insgeheim recht, dennoch wollte sie nichts unversucht lassen. Sie verabschiedete sich von ihm, verließ das Gebäude und begab sich zurück in die Burgstraße. Dort ging sie ohne Umwege in die Salbenküche, holte erneut die Bücher hervor und fing an, darin zu blättern.
Was sie fand, bestätigte ihre Annahme. In einem der Bücher stand ein Bericht aus einem Dorf, das vom Antoniusfeuer heimgesucht wurde. Die Aufzeichnungen besagten, dass die Krankheit die Eingeweide auffraß. Die Glieder, nach und nach zernagt, wurden schwarz wie Kohle und die Kranken starben schnell und unter grauenvollen Schmerzen. Ihr Gebrüll war weithin zu hören und ein unbeschreiblicher Gestank verpestete die Häuser, in denen sie dahinsiechten. Nach langem Suchen stieß sie auf eine Erwähnung des Antoniusbrotes, allerdings war die Beschreibung der Zutaten ungenau.
Sie wollte die Bücher schon zurück ins Regal stellen, als ihr Blick auf eine Abschrift der Lehren eines arabischen Alchemisten fiel, dessen Arzneien sie schon oft verwendet hatte. Dort entdeckte sie einen Eintrag über ein Gift, das dem Alchemisten zufolge stark heiß war und das zu einer Krankheit führte, die sich auf zweierlei Arten äußerte. Die erste Beschreibung entsprach dem, was Olivera als Antoniusfeuer kannte, die zweite schilderte ziemlich genau Claras Leiden. Neben Krämpfen, Dauerkontrakturen der Muskeln und Ohnmachten führte die Krankheit, wie der Alchemist angab, auch zum Irrsinn. Linderung konnten Umschläge von kalten Arzneien wie Mohnsaft, Sandelholz, Kampfer und Endivienwasser bringen. Zudem wurden Breitwegerich zur Schmerzlinderung, Bleiweiß, Rautensaft und Rosenöl empfohlen.
Es ist nicht bekannt, worin das Leiden seinen Ursprung nimmt, schrieb der Alchemist. Wenn jedoch rechtzeitig mit der Behandlung begonnen wird, kann der Kranke gerettet werden.
Olivera schob das Buch grübelnd beiseite. Hatte die Magd am Ende doch recht? Und falls ja, würde Martin Groß ihr erlauben, seiner Tochter erneut eine Arznei einzuflößen?
»Wenn Ihr sie wieder nicht heilen könnt, liegt ihr Schicksal in Gottes Hand«, hatte er gesagt.
Olivera nahm an, dass er nichts unversucht lassen würde, um seiner Tochter das Leben zu retten. Sie beschloss, die Arzneien zuzubereiten und mit Matthäus über die Schrift des Alchemisten zu sprechen.
Sie war gerade dabei, die Zutaten zusammenzusuchen, als Götz in der Offizin erschien. Hinter ihm tauchten Jona und Mathes auf. Ohne ein Wort zu sagen, trat Götz auf den Tisch zu, an dem sie arbeitete, und legte einen Ring darauf.
Olivera sah von einem zum anderen. »Was ist denn mit euch passiert?«, fragte sie mit Blick auf Jonas und Mathes’ Gesichter.
»Nichts«, murmelte der Knecht.
»Götz?« Sie wandte sich ihm fragend zu. »Was ist das für ein Ring?«
»Sieh ihn dir an«, forderte er sie tonlos auf.
Zögernd nahm sie ihn und betrachtete das Wappen. »Ein Siegelring?«
»Nicht irgendein Siegelring«, entgegnete Götz. »Paumgartners Siegelring.«
Olivera glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Paumgartner?«
»Jona hat ihn gefunden.«
»Den Ring?«
»Paumgartner.«
Oliveras Herz setzte einen Schlag aus. Sie sah Jona fassungslos an.
»Er war beim Hof des Alten Endris«, erklärte Götz und erzählte ihr, was Jona berichtet hatte.
Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Seit Markos’ Verschwinden hatte sie versucht, sich einzureden, dass es vorbei war; dass die Vergangenheit begraben und vergessen war; dass sie nie wieder über ihren Bruder reden oder an ihn denken musste. Sie hielt sich an der Tischkante fest, da der Raum sich plötzlich um sie drehte. »Wieso?«, murmelte sie. Warum