»Wenn Susa im Krankenhaus liegt, wer sorgt denn jetzt für Lenny?«
»Die beiden sind schon vor Längerem bei mir eingezogen. Wir haben ein Bett für Lenny in mein Arbeitszimmer gestellt, Susa nimmt das Sofa. Früher hat Susa in einem Restaurant bedient, heute arbeitet sie nur noch Teilzeit in einer Kita, um sich intensiver um Lenny kümmern zu können. Ihr Geld reicht schon lange nicht mehr für eine eigene Wohnung. Wohl oder übel sorge ich jetzt vermehrt für meinen Neffen.«
»Selber hast du keine Kinder?«, fragte Palmer, um sich etwas vom Thema zu lösen.
»Das fehlte gerade noch. Kinder sind bloß ein Mittel der Männer, Frauen in die Abhängigkeit zu drängen. Nein, Lenny reicht mir.«
Palmer schob das Geld für den Kaffee neben die Tasse, und während sie sich die Sonnenbrille auf der Nase zurechtrückte, erhob sie sich.
»Hannah, hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich hoffe, das kommt zu einem guten Ende mit deiner Schwester. Leider muss ich jetzt los, einige Einkäufe erledigen.«
»Wir haben denselben Weg.«
Palmer wunderte sich, da Hannah gar nicht wissen konnte, welche Richtung sie einschlagen würde. Als sie aufbrach, trippelte Hannah wie selbstverständlich neben Palmer her.
Ein heftiger Windstoß zerzauste Hannahs Frisur, während laut vernehmbar die Titelmelodie von Star Wars ertönte. Hannah riss die Augen auf und blieb schlagartig stehen.
»Warte«, meinte sie zu Palmer, die jedoch unbeirrt weitermarschierte. Im Hinterherstolpern kramte Hannah umständlich das Handy aus ihrer Strohtasche. »Lenny?« Geschockt starrte sie zu Palmer. »Scheiße, nein, Lenny!« Hannah rannte los. »Komm mit«, schrie sie Palmer zu.
3
»Was ist passiert?« Als Palmer Hannah fragte, blickte sie bloß in ein panisch verzerrtes Gesicht.
Die beiden hetzten die stark befahrene Straße hoch und überquerten den Pilatusplatz bei Rot. Palmer stockte der Atem, als eines der Fahrzeuge mit quietschenden Reifen knapp vor ihnen zum Stillstand kam.
Sie bogen rechts in die Zähringerstraße ein und eilten zwischen den Wohnhäusern und den geparkten Fahrzeugen vorwärts, während Hannah es schaffte, im Spurt die Schlüssel aus ihrer Tasche zu fischen.
Als sie das Treppenhaus betraten, schlug ihnen eine angenehme Kühle entgegen, und das Licht ging automatisch an. Ein starker Geruch nach Kernseife kitzelte Palmers Nase, als sie hinter Hannah in den zweiten Stock hoch hastete. Die Wohnungstür schlug scheppernd an die Wand, dann stürmte Hannah in Lennys Zimmer. Hier lag der Junge, drückte sich mit weit aufgerissenen Augen die Sauerstoffmaske auf Mund und Nase und füllte seine Lungen so hastig und tief er konnte.
»Ich rufe den Notarzt!« Hannah fingerte nach ihrem Handy und ließ es dabei fallen.
»Ich mache das.« Palmer hatte ihr Telefon schon in der Hand und entsperrte es, als sie sah, wie der Junge schwach die Hand hob und ein Zeichen gab. Nach einigen Atemzügen sank Lennys Arm ermattet auf die Decke, und die Gummimaske rutschte aufs Kissen. Völlig entkräftet bewegten sich einzig seine Augen in Richtung von Hannah, die sich bleich an der Wand abstützte.
»Hast du Schokoladeeis mitgebracht?« Lennys Lippen formten sich zu einem erschöpften Lächeln.
Hannah schluchzte auf und ließ sich auf die Bettkante sinken. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihr Brustkorb bebte. Jetzt küsste sie den Jungen auf die Stirn und legte schließlich ihren Kopf auf seine Brust.
»Zu viel Zucker in Schokoladeneis, weder vegan noch laktosefrei.« Mit dem Unterarm wischte sie sich die Wange trocken, während Lenny die Augen verdrehte, zu Palmer blickte und mit den Schultern zuckte.
»Schokolade gewinnt man aus der Kakaobohne, ist also praktisch ein Gemüse«, belehrte er Hannah. »Und keiner isst mehr Schokolade als die Schweizer, trotzdem hat keiner einen niedrigeren Body-Mass-Index, und keiner wird älter in ganz Europa.«
Kluges Kerlchen, dachte Palmer und nickte Lenny zu.
»Trinkst du nicht lieber ein Bier?«, fragte Palmer.
Aber Lenny sah schüchtern weg, bevor er ihr Lächeln erwiderte. Dafür hob Hannah entsetzt den Kopf.
»Lenny ist 17.«
»Eben.« Palmer neigte ihren Oberkörper zu Lenny und tätschelte dessen Arm. »Hallo, ich bin Palmer. Du brauchst also ein neues Herz.«
Lenny hob seine Hand leicht an, was Palmer als Aufforderung auffasste, sie zu drücken.
Der junge Mann tat Palmer leid, wie er da ans Bett gefesselt lag, bei lebendigem Leib gefangen.
Sie schwiegen die nächsten Momente, und Palmer fragte sich, in welche Geschichte sie sich hier hatte hineinziehen lassen. Immerhin hatte sie dank Hannah ihre eigenen Probleme für einige Minuten vergessen.
Noch während sie ihren Blick nicht von der erbärmlichen Gestalt und dem durchsichtigen Plastikschlauch lösen konnte, legte sich plötzlich ein strahlendes Lächeln auf Lennys Gesicht. Dabei stellte er auffallend gleichmäßige Zahnreihen zur Schau, während sich seine dunkelblonden schulterlangen Haare wie hingeworfen auf dem Kissen ausbreiteten. Sie waren so lang gewachsen, dass er wohl ständig den Kopf mit einem Ruck zur Seite schleudern musste, um etwas zu sehen.
Die Sonne spiegelte sich im offenstehenden Fenster und beleuchtete sein bleiches Gesicht. Fragend hob er die hellen Augenbrauen und blickte mit seinen wachsamen Augen, eher blau als grau, zu Palmer.
Ein bemitleidenswerter, aber hübscher Junge, dachte Palmer wenn auch etwas gebrechlich, jedenfalls scheint er größer und erwachsener als erwartet.
Palmer erkannte bereits Falten in seinen Mundwinkeln, zu tief für einen 17-Jährigen, und in seinen Augen lag die merkwürdige Mischung aus langem Leid und dadurch früh erworbener Reife.
Ein Bein seiner verwaschenen Trainingshose war nach oben verrutscht und ließ seine knallrote Socke hervorblitzen. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit Darth Vader-Aufdruck.
»Schokoladeeis also?«, fragte Hannah und herzte ihn. »So schnell änderst du also deine Meinung. Gestern erst hast du noch einen anderen wichtigsten Wunsch gehabt.«
»Please.« Lenny grinste etwas schmerzlich.
»17 und noch ungeküsst.«
»Doppelplease«, entfuhr es ihm, dabei schlug er zärtlich, aber kraftlos mit dem Handrücken gegen Hannahs Arm, und ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Wenn du immer sofort zuschlägst, dann wird das nie was mit einer Freundin.« Sie strich ihm die Strähne aus dem Gesicht. »Dann endest du missgelaunt und griesgrämig.«
»So wie du?«, entgegnete Lenny. Aber sogleich schien ihm diese Spitze sichtlich leidzutun und er legte seine Hand auf Hannahs Arm. »Liebend gerne hätte ich jemandem mein Herz geschenkt.« Er zuckte mit den Schultern, dann las er aus Palmers Gesichtsausdruck, dass sie die Ironie in seinen Worten verstanden hatte. Aber gleich verfinsterten sich seine Züge.
»Wie geht’s Nasus?«
»Unverändert ernst. Bis vor einer halben Stunde ist sie noch nicht zu Bewusstsein gekommen.«
Tränen traten ihm in die Augen, und seine Unterlippe zitterte. Zärtlich strich Hannah über seine Wange.
»Nasus?«