Zu dieser frühen Stunde fiel das milchige Licht der noch zaghaften Frühlingssonne durch die gläserne Fassade ihres Eckbüros, das sie nach ihrer Beförderung zur Chefredakteurin bezogen hatte. Von hier aus genoss sie den atemberaubenden Blick auf Berlin, bis endlich das grüne Lämpchen der Espressomaschine zu blinken aufhörte. Die erste Tasse Kaffee war ihr heilig. Clara liebte es, ihn in aller Ruhe zu genießen. Mit viel Milchschaum. Besonders an den Donnerstagen, wenn nicht nur die UP erschien, sondern auch all die anderen bunten Klatschblätter, die Einblicke ins Leben der Promis und Stars gewährten. Die Konkurrenzbeobachtung war zwar längst an ein Marktforschungsunternehmen ausgelagert, das regelmäßig Berichte ablieferte, doch Clara zog es vor, sich selbst einen unmittelbaren, ungefilterten Überblick über die Society-News der vergangenen Woche zu verschaffen. Lieber vertraute sie der eigenen Urteilsfähigkeit als irgendwelchen Marktforschern. Die Ergebnisse ihrer Analysen archivierte sie fein säuberlich in den schwarzen Ordnern im Jalousieschrank, der bis knapp unter die Decke reichte. Man konnte ja nie wissen, wofür diese Aufzeichnungen eines Tages gut sein würden. Hier oben war die Luft schon recht dünn. Und es war in jedem Fall besser, stets wachsam und gut vorbereitet zu sein. Vor allem auf Angriffe aus den eigenen Reihen.
Clara liebte ihren wöchentlichen Blick über den Tellerrand. Überhaupt, wenn sie wie gerade eben zufrieden feststellte, dass sie einen hervorragenden Job gemacht hatte. Die Reportage über Steffen Wolke würden die Leserinnen verschlingen. Vor allem wegen der Fotostrecke, die den Soap-Star aus »Hier und jetzt« sexy wie nie zuvor zeigte. Die Titelstory der aktuellen UP-Ausgabe war ohnehin nicht zu toppen. Ihre Mitbewerber mussten früher aufstehen, wollten sie ihr das Wasser reichen. Clara war ihnen wie so oft um die berühmte Nasenlänge voraus.
Gestern Nachmittag hatte Saskia Hansen, die junge Society-Reporterin, die Clara vor wenigen Monaten vom größten Konkurrenten aus Hamburg abgeworben hatte, gerade noch rechtzeitig grünes Licht von der Rechtsabteilung eingeholt. Und heute Morgen prangte die Headline groß und fett, vor allem aber exklusiv, am druckfrischen UP-Titel.
Unfassbarer Verdacht gegen TV-Star:
Hat Henning Bach Sandra S. (21) vergewaltigt?
Clara nahm einen Schluck von ihrem Caffè Latte und leckte sich genüsslich den Milchschaum von der Lippe. Wieder einmal hatten sich die exzellenten Kontakte, die sie im Laufe der Jahre aufgebaut hatte, und die sie sorgsam hegte und pflegte, als ihr wertvollstes Kapital erwiesen. Ein kleiner inoffizieller Hinweis von offizieller Polizeistelle hatte ihr zum Exklusiv-Interview mit der bisher völlig unbekannten Sandra S. verholfen, die den beliebten TV-Star vor zwei Tagen angezeigt hatte und behauptete, von ihm vergewaltigt worden zu sein. Im Laufe eines tränenreichen Interviews hatte die junge Frau kein noch so schmutziges Detail ausgelassen. Clara hatte der Wasserstoffblondine zu bedenken gegeben, dass die Story gehörig Staub aufwirbeln und ziemlich sicher das Ende einer vielversprechenden Schauspielerkarriere bedeuten würde. Doch Sandra S. war standhaft bei ihrer Geschichte geblieben.
Fairerweise hatte die Chefredakteurin dem Beschuldigten eine Chance eingeräumt, zu den schweren Vorwürfen gegen seine Person Stellung zu beziehen. Doch Henning Bach hatte Clara, die seit seinen Anfängen als austauschbarer Nebendarsteller wohlwollend über ihn berichtet hatte, reichlich brüsk an sein Management verwiesen, das jeden Kommentar verweigerte. Mit diesem folgenschweren Fehler musste er nun leben. Clara konnte und wollte ihm nicht mehr helfen. Warum auch? Es gab keinen Grund Sandra S.’ Erzählungen anzuzweifeln. Sie war ein unbeschriebenes Blatt, eine junge hübsche Frau, deren Idol sie angeblich schamlos missbraucht hatte. Saskia hatte ihre Vergangenheit lückenlos überprüft. Und Henning Bach war geliefert. Als mutmaßlicher Vergewaltiger konnte er sich von seinem süßen Starleben erst einmal verabschieden. Höchstwahrscheinlich sogar für alle Zeiten.
In ungefähr einer Stunde würden die Telefone in der Redaktion heißlaufen, wusste Clara. Wenig später würde ihr Jan Decker, der Geschäftsführer des UP-Magazins und Vorstandsmitglied des Reiter-Verlages, zur brisanten Exklusiv-Story gratulieren. Die Auflage würde sich verkaufen wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Und Decker sie dafür lieben. Noch mehr, als er es ohnehin schon tat. Das war der anstrengendste Teil an ihrem Job.
Ständig musste sie sich ihren Boss vom Hals halten, ohne ihn zu vergrämen. Seit er sich für ihre Beförderung zur Chefredakteurin höchstpersönlich starkgemacht hatte, wie er nicht müde wurde zu betonen, war er hinter ihr her. Dabei hatte seine Frau Betty damals erst entzückende Zwillingstöchter zur Welt gebracht. Clara war selbst kein Kind von Traurigkeit und wahrscheinlich eine der wenigen Frauen, die davon überzeugt waren, dass Sex nicht zwangsläufig mit Liebe einhergehen musste. Oftmals war sogar das Gegenteil der Fall. Sie konnte sich an einige ziemlich heiße Nummern mit Männern erinnern, die ihr weder vorher noch nachher etwas bedeutet hatten. Ob sie gebunden waren oder nicht, war ihr dabei stets herzlich egal gewesen. Das mussten die Typen schon mit ihrem Gewissen ausmachen. Doch Jan Decker war für sie tabu. Nicht wegen Betty oder den Zwillingen, sondern weil Clara einem ihrer wichtigsten professionellen Prinzipien folgte: »Never fuck the office.« Sie hatte es bisher nicht nötig gehabt, sich nach oben zu schlafen. Und sie hatte nicht vor, diesen Grundsatz jemals zu brechen. Auch nicht für Decker, der trotz seiner Mitte 50 durchaus eine Sünde wert war. Was Clara betraf, so würde sie erst mit ihm schlafen, wenn er woanders sein Geld verdiente. Doch dann saß sie bereits auf seinem Vorstandssessel. Und das Interesse an ihr war damit vermutlich jäh erloschen.
Clara blickte in den Spiegel ihrer Puderdose, legte ein wenig Lipgloss auf ihre markant geschwungenen Lippen auf. Bis Jan Decker sein Büro in der 22. Etage für sie räumte, wollte sie ihn wenigstens mit ein paar zusätzlichen Marktanteilen beglücken, dachte sie schmunzelnd und steckte ihr Schminkzeug in die Handtasche zurück.
2
Für Mona Ettinghaus war dieser Donnerstagmorgen alles andere als ein ganz normaler, war er doch der letzte in ihrem Leben, das gerade einmal 43 Jahre lang gedauert hatte. Seit elf Tagen galt die Geschäftsführerin des Ettinghaus-Verlages nunmehr als vermisst. Daran hatten weder die beinahe Rund-um-die-Uhr-Ermittlungen des LKA Berlin noch die guten Beziehungen der einflussreichen Unternehmerfamilie Ettinghaus etwas ändern können.
Anfangs war der schwerreiche Verlegerclan – genau wie Kriminalhauptkommissar Frank Schütte – davon ausgegangen, dass das prominente Familienmitglied Opfer einer Entführung geworden war. Monas schwarzer Nobel-Geländewagen war auf einem Restaurant-Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Lehnitzsees, etwa zehn Kilometer nördlich von Berlin, aufgefunden worden. Ihre Krokotasche, das Handy und ein paar Akten hatten im versperrten Wagen gelegen. Eine Lösegeldforderung war bisher nicht eingegangen. Von der Verlegerin, die ihre Firma an einem Montagabend wie gewöhnlich gegen 19 Uhr verlassen hatte, fehlte jede Spur.
Mittlerweile hatten auch die Medien Wind vom Verschwinden der Mona Ettinghaus bekommen und übertrafen sich gegenseitig mit den wildesten Spekulationen über ihr mögliches Schicksal. Doch nichts, was die Presse bisher erfunden hatte, reichte auch nur annähernd an die so viel grausamere Realität heran.
Monas nackter, blutleerer Körper und der kahl geschorene Schädel ließen ihren Leichnam wie eine Schaufensterpuppe aussehen, die mit gespreizten Armen und Beinen an ein Andreaskreuz an der Wand gefesselt war. Der blasse Kopf hing leblos vornüber, die tiefe Schnittwunde in der Kehle verbergend, aus der inzwischen alles Blut gewichen war. Von den Körpersäften, die auf dem Fliesenboden des Kellers eine übel riechende Lache gebildet hatten, und den Blutspritzern auf den weißen Wandfliesen war nichts mehr zu sehen, so sauber waren sie mit dem Wasserschlauch abgespritzt worden.
Genauso sauber, wie Monas penibel enthaarter Leichnam, den nie wieder jemand zu Gesicht bekommen sollte. Außer ihr geisteskranker Mörder, der sein perverses