Ovids Briseis weiß also genau, welches Schicksal ihr blüht. Während Homers Figur hofft, einst die Gattin des Achilleus zu werden, der ihre Familie ermordet hat, ist sich ihr römisches Pendant darüber im Klaren, dass dies niemals Wirklichkeit werden kann. Auch bei Ovid erinnert sich Briseis an die brutale Ermordung ihrer Familie durch Achilleus: „Ich habe drei Brüder fallen sehen, Gefährten durch Geburt und Tod, deren Mutter auch die meine war. Ich habe – wie viel er mir bedeutet hat! – meinen Mann gesehen, wie er sein Blut auf die Erde ergoss und seine blutende Brust zu Boden warf.“ Achilleus, so heißt es weiter, hat dann die Stelle ihrer Familie eingenommen: „Nachdem ich so viele verloren hatte, hatte ich einzig dich als Ersatz, du warst mein Herr, du warst mein Mann, du warst mein Bruder.“6 Diese Anhänglichkeit ist schwer nachvollziehbar, aber Briseis hat niemanden sonst; es handelt sich klar um eine Art antiken Stockholmsyndroms.7
Es ist aussagekräftig, dass die antiken Autoren kein Problem mit der schonungslosen Darstellung von Briseis’ Leiden und Versklavung hatten. Ein modernes Publikum würde wohl kaum mit einem Helden klarkommen, der eine Frau entführt und vergewaltigt hat, nachdem er zum Mörder ihrer ganzen Familie geworden ist. Die Perspektive der Antike ist uns sehr fremd: Briseis, eine Nebenfigur und Sklavin, kommt zu Wort und äußert ihren Schmerz. Gleichzeitig wird Achilleus – gerade in der Ilias, aber auch in zahllosen anderen bildlichen und literarischen Darstellungen – als Identifikationsfigur und Held wahrgenommen. Hier besteht in der antiken Perspektive kein Widerspruch, in der heutigen schon: Der überdurchschnittliche Mann, der große Held oder das große Genie muss sich neuerdings auch auf einer intimeren Ebene verantworten. Heldentaten rechtfertigen keine privaten Gräuel mehr.
Dies erscheint durchaus als Fortschritt. Gleichzeitig kann man die Veränderung der Beziehung zwischen Achilleus und Briseis bei Netflix auch kritischer sehen. Schicksale wie das der Beutesklavin sind durch die globale Berichterstattung wieder sehr präsent: Bekanntlich werden Frauen und Mädchen von Terrororganisationen wie Boko Haram immer wieder verschleppt und versklavt. Homers und Ovids Darstellungen, wiewohl künstlerisch überhöht, geben immerhin eine Vorstellung von der Brutalität dieser Situationen, während die Netflix-Version – die schöne und starke Frau, die den Kriegerhelden so beeindruckt, dass er sie mit Respekt behandelt, worauf sie sich aufrichtig in ihn verliebt – das Leid echter Opfer auch relativiert.
Die Gattin: Penelope
Ein anderes von der männlichen Perspektive gezeichnetes Frauenschicksal ist das der Penelope. Wer ist Penelope? Penelope ist die Gattin des Odysseus. Wir kennen sie zuerst aus Homers Odyssee als treue Ehefrau, die zwanzig Jahre lang auf ihren Mann wartet, die letzten Jahre davon bedrängt von einer Schar Freier, die sie heiraten und Odysseus’ Platz einnehmen wollen. Penelope ist ohne Zweifel eine starke Person, die ihren Sohn alleine großzieht und sich der Freier so gut erwehrt, wie sie das als Frau vermag. In Homers Epos wird sie immer wieder als περίφρων (períphrōn) bezeichnet, als ‚umsichtig‘, und in der Tat heißt es in der Literatur immer wieder, dass diese Frau ihrem klugen Gemahl Odysseus durchaus das Wasser reichen kann – Odysseus ist bekanntlich das intellektuelle Schwergewicht der griechisch-römischen Mythologie. So trickst Penelope die Freier mehrfach aus: Sie sagt, sie könne nicht heiraten, bevor sie nicht das Leichentuch für ihren Schwiegervater Laërtes fertig gewebt habe. Damit erkauft sie sich Jahre – bis die eifrigen Bewerber von einer verräterischen Magd erfahren, dass Penelope allnächtlich auftrennt, was sie tags zuvor gewebt hat. Auch mit der berühmten ‚Bogenprobe‘ führt sie die Freier hinters Licht: Sie verspricht, denjenigen zu heiraten, der Odysseus’ Bogen spannen und einen Pfeil durch zwölf Äxte schießen kann. Wie man sich das Experiment genau vorzustellen hat, ist archäologisch umstritten; jedenfalls hat keiner der Freier auch nur den geringsten Erfolg, dafür aber der arme Bettler, der sich seit Kurzem bei Hofe aufhält – und sich eben durch diesen seinen Erfolg mit dem Bogen als Odysseus outet. Penelope, die Umsichtige, traut dem Braten aber noch immer nicht und stellt auch ihren Ehemann auf die Probe: Sie befiehlt ihren Dienern, ihm das Bett aus dem Schlafgemach zu tragen, das er selbst gebaut habe. Odysseus erwidert, dies sei nicht möglich, da er es in den Stamm eines Baumes hineingeschnitzt habe, um den herum dann die Kammer gebaut worden sei. So werden denn zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Penelope weiß, dass nur Odysseus über diese Information verfügt, und Odysseus kann aus diesem ihrem Wissen ableiten, dass in zwanzig Jahren niemand sein Schlafzimmer betreten hat.
Penelope ist klug, ohne Zweifel. Aber sie ist wie Briseis eine Figur, die nur im Hinblick auf einen Mann existiert: Penelope wartet auf Odysseus, bleibt ihm treu, ermöglicht seine Wiederkehr. Auch sie lässt Ovid in seiner Sammlung Heroides einen Brief schreiben; er illustriert darin die Fixiertheit der Gattin auf ihren Mann durch einen amüsanten Kunstgriff: Penelope ist über alles informiert, was ihr Mann tut. Sie scheint ihn ständig zu beobachten. Schon die Eingangsverse wirken, als sei der Brief eine realistische Kontaktaufnahme: „Dies schickt dir deine Penelope, Odysseus, du Langsamer, und es ist mir nicht wichtig, dass du antwortest: Komm selbst!“8 Penelope erzählt, dass sie sich immer schrecklich gesorgt hat, wenn sie von getöteten Griechen hörte, und zählt zahlreiche Namen griechischer Helden auf, von deren Tod sie erfahren haben will. Der Eindruck ist mindestens der einer täglichen Zeitungslektüre, wenn nicht eines Live-Mitschnitts, etwa in der Passage, wo Penelope über Odysseusʼ Spähergang ins Lager der trojanischen Verbündeten berichtet, eine Heldentat, die ihm die Pferde des Thrakers Rhesos einbringt. Während dieser Episode ängstigt sich Penelope zu Tode, erst beim glücklichen Ende ist sie erleichtert: „In einem fort klopfte mir das Herz vor Furcht, bis man sagte, du rittest als Sieger auf thrakischen Pferden durch die Schar der Freunde.“9 Es wirkt tatsächlich, als habe sie Odysseus bei seinem Abenteuer zugesehen.
Penelope existiert nur im Hinblick auf Odysseus und im Warten auf ihn, wie auch Briseis nur als ‚MacGuffin‘ für die Ilias-Handlung dient. Beide Figuren wecken Empathie, sind aber keine selbstständigen und vielseitigen Charaktere wie Achilleus und Odysseus: Von den beiden Helden werden unzählige Episoden in ganz verschiedenen Kontexten erzählt. Sie sind keineswegs nur die Männer von Briseis bzw. Penelope.
Briseis mag erfunden worden sein, um Achilleus und Agamemnon einen Grund für ihren Streit zu geben. Bei Penelope verhält sich das aber anders. Diese mythische Figur hätte mehr zu bieten gehabt, wie man aus einigen Erwähnungen in verschiedenen weniger bekannten antiken Texten erfährt.10 Schon ihr Name wurde in der Antike auf zwei ganz verschiedene Arten erklärt: als ‚Weberin‘, was perfekt zu ihrer Rolle in der Odyssee passt, und als ‚Entenfrau‘, was zunächst überhaupt keinen Sinn zu ergeben scheint, in den Quellen aber damit erklärt wird, dass Penelope einst von Enten vor dem Ertrinken gerettet worden sei. Ihr Vater sei der König von Arkadien gewesen, ihre Mutter eine Nymphe. Nach manchen Quellen ist Penelope die Mutter des bocksfüßigen Gottes Pan, nach anderen heiratet sie nach Odysseusʼ Tod ihren Stiefsohn Telegonos, den Odysseus in seiner Abwesenheit mit der Zauberin Kirke gezeugt hat.
Man könnte Penelopes Geschichte also auch ganz anders erzählen. Die Figur hat Facetten, die durch die Dominanz von Homers Erzählung vollkommen untergegangen sind: Hinter der Halbnymphe, die von Enten davongetragen wird und später ihren Stiefsohn heiratet, würde niemand die treusorgende Gattin des Odysseus erkennen.
Eine gegenwärtige Neuinterpretation der Figur verfolgt den Ansatz, diese verlorenen Facetten ans Tageslicht zu holen. In ihrem Roman The Penelopiad (Die Penelopiade), der 2005 veröffentlicht wurde, zeigt die kanadische Autorin Margaret Atwood eine Penelope, die nicht nur über ihre Verbindung zu Odysseus definiert ist. Im Hades, und zwar interessanterweise im 21. Jahrhundert, rekapituliert Penelope ihr Leben, beginnend mit ihrer Kindheit in Sparta. Unter anderem versucht sie zu erklären, warum sie ins Wasser geworfen wurde, in Atwoods Version als Kind von den eigenen Eltern: Penelope spekuliert, dass ihr Vater wohl ein Orakel erhalten haben müsse, nach dem sie sein Leichentuch weben werde. Wenn er dies verhindere, werde er ewig leben, so habe er wohl gedacht. Atwood verknüpft hier Elemente aus verschiedenen Mythen: Die Entengeschichte aus der Etymologie des Namens, das Webemotiv und eine