4.5Zusammenspiel von stabilen und dynamischen Elementen in agilen Organisationsansätzen
Die Darstellung der Charakteristika agiler Organisation in den Kapitel 4.2 bis 4.4 hat gezeigt, dass der Anpassungs- und Adaptionsfähigkeit eine große Bedeutung zukommt (z. B. iteratives Vorgehen, kontinuierliches Lernen, kleine autonome Teams, lose Kopplungen, dynamische Rollen, flexible Ressourcenallokation). Agile Organisationsmethoden und -ansätze weisen eine höhere Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit auf als klassisch-hierarchische Ansätze. Damit haben sie in VUCA-Umfeldern klare Vorteile.
Aber damit notwendige und bewährte Routineaufgaben/-prozesse des Tagesgeschäfts nicht dem überschäumenden Flexibilitätsanspruch und dem Drang nach Veränderung zum Opfer fallen, und komplexe unvorhersehbare Vorhaben nicht in ziellosem Aktionismus enden, benötigen auch agile Unternehmen einen Orientierungsrahmen, in dem flexibel und ausgerichtet (inter)agiert werden kann. Anpassungsfähigkeit und Veränderung sind nur mit dem Rückgriff auf „entlastende“ Routinen und Prozesse möglich.132
Genauso wenig wie eine klassisch-hierarchische Organisation völlig starr und unflexibel ist, auch wenn dies von ein paar Agilitäts-Evangelisten teilweise so übertrieben dargestellt wird, genauso wenig kommt eine agile Organisation ohne stabilisierende Aspekte aus (z. B. klare Rahmenprozesse, fixe Meetingstrukturen oder definierte Abstimmungs- und Entscheidungsregeln). Agile Organisationsansätze fokussieren zwar auf Anpassungsfähigkeit in VUCA-Umfeldern, aber auch hier gibt es stabile Elemente bzw. Praktiken, die dem Handeln einen sicheren Rahmen geben und einen Teil der Unsicherheit absorbieren. Stabilität und Anpassungsfähigkeit schließen sich nicht aus. In unserer digitalen VUCA-Welt bedingen sie sogar einander.133
Damit die Organisationsmitglieder selbstorganisiert und eigenverantwortlich wirken können, braucht es klare und verbindliche Regelwerke, definierte Rahmenprozesse und akzeptierte Strukturbausteine.134 Selbstorganisation und Eigenverantwortung lassen sich nicht einfach verordnen.135 Es gilt: „Wer auf einmal hierarchische Strukturen und Systeme abbaut, aber keine neuen schafft, die künftig vorgeben, wie sich selbstgesteuerte Teams bilden, wie Rollen definiert und zugewiesen werden, wie man zu einem Job kommt oder ihn wieder verliert und wie Entscheidungen getroffen werden, landet geradewegs im Chaos.“136
Ein solcher, stabiler Rahmen sollte aber nicht starr oder völlig statisch sein, sondern muss flexibel genug sein, damit die inneren und äußeren Kräfte, die auf eine Organisation wirken, aufgefangen und kompensiert werden können. Es muss möglich sein, zugleich im und am System zu arbeiten, ohne dass sich diese Vorhaben gegenseitig im Wege stehen oder zulasten der Effizienz oder Effektivität gehen.
Die in den Kapitel 6 aufgeführten agilen Projekt- und Prozessmethoden, die Skalierungsansätze in Kapitel 7 und die agilen Strukturansätze in Kapitel 8 folgen allesamt konkreten Routinen und Prozessschritten, beinhalten definierte, verbindliche Praktiken und geben standardisierte Rollen vor. So manifestieren sich z. B. der iterativ-inkrementelle Charakter und das Pull-Prinzip beim Scrum-Ansatz in Formeines definierten Rahmenprozesses. Wie Scrum abläuft, ist definiert und stabil; was und wie in Scrum inhaltlich entwickelt wird, ist dagegen offen und flexibel. Ähnlich ist es z. B. bei LeSS, SAFe oder beim OKR-Ansatz. Agile Strukturansätze wie Holacracy schreiben standardisierte Prozesse und Abläufe vor, nach denen Rollen und Kreise (Module) gebildet werden und wie die Arbeit im und am System effizient und effektiv gestaltet werden kann (z. B. Rollen wie Lead Link, Facilitator, Secretary). Diese stabilen Elemente bieten Sicherheit und Verlässlichkeit, gleichzeitig aber auch Räume für Intervention und Adaption. Retrospektiven bei Scrum dienen in erster Linie der Verbesserung der Zusammenarbeit im Team, Reflexionsschleifen bei Design Thinking stellen die Integration neuer Erkenntnisse in den Innovationsprozess sicher, Tactial und Governance Meetings bei Holacracy dienen der Bearbeitung und Lösung von Spannungen.
Es gilt der Leitspruch „freedom within a frame“, d. h. es gibt definierte, stabile Metaprozesse/-strukturen, die den Rahmen vorgeben, die inhaltliche Ausfüllung erfolgt aber mit großen Freiheiten, um anpassungsfähig an neue bzw. veränderte Erkenntnisse (über Kunden, Märkte, Wettbewerber, Technologien) zu sein. Und es gibt auch Freiheiten, am Rahmen zu drehen.
Agile Organisationen sind somit sowohl dynamisch als auch stabil. Auch agile Ansätze benötigen so gesehen eine gewisse Beidhändigkeit (vgl. nächstes Kapitel). Sie müssen so flexibel sein, dass sich die Handelnden und mithin die Organisation laufend an neue Bedingungen anpassen und kontinuierlich dazu lernen kann, und stabil genug, um dies auf effiziente und effektive Weise systematisch und geordnet zu tun. Im Verhältnis zu klassisch-hierarchischen Organisationen sind agile Prozesse und Strukturen aber in Summe deutlich dynamischer.
Weil dieser Fokus auf Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit aber auch im Digitalzeitalter nicht zu jedem Bereich und jeder Aufgabenstellung passt, sondern verschiedene Bereiche unterschiedlich stark VUCA (vgl. Kapitel 1) sind, sollten agile Ansätze nicht immer und überall gewählt werden. Agile Organisation ist nicht die „Eierlegende Wollmilchsau“. Gerade in größeren Unternehmen braucht es z. T. auch klassische Ansätze. Umgekehrt ist es natürlich auch nicht empfehlenswert, aus Angst vor der eigenen Courage jedes Risiko zu umschiffen und alles so zu lassen wie es ist – nach dem Motto „Das haben wir schon immer so gemacht!“ Das folgende Kapitel 5 geht deshalb nun auf das Zusammenspiel von klassischen und agilen Ansätzen ein.
5 Zusammenspiel von klassischen und agilen Organisationsansätzen (Beidhändigkeit)
Wie bereits mithilfe der Stacey- und Cynefin-Matrix in Kapitel 2.4 erläutert, passen klassische Ansätze, die eher auf Stabilität setzen, in bekannte Umfelder, in denen die Anforderungen und die dafür notwendigen Technologien auf der Hand liegen – das Was und das Wie sind relativ klar. Agile Ansätze wiederum entfalten ihr Potenzial, wenn Umweltbedingungen unbekannt und unbeständig sind, geprägt durch hohe Dynamik.
Beidhändigkeit bzw. situativ-adäquate Balance von klassisch und agil
Die aktuell vielerorts vorzufindenden, unterschiedlichen Organisations- und Führungsansätze in ein und demselben Unternehmen deuten darauf hin, dass es bei der Suche nach den richtigen Organisations- und Führungsprinzipien weniger um ein „entweder oder“, sondern um ein „sowohl als auch“ geht.137 Auch sind die Übergänge von klassisch-hierarchisch zu agil teilweise fließend. Es gibt sowohl klassisch-hierarchische Grundstrukturen mit agilen Elementen (z. B. agile Einheiten und Methoden in einem traditionellen Konzern) als auch agile Grundstrukturen, die in Teilen klassisch-hierarchisch gelebt werden (z. B. Kreise in einer Holacracy-Struktur, die wiederkehrende Routineprozesse mit wenigen Unklarheiten und Veränderungen bearbeiten). Eine scharfe Trennlinie zwischen klassisch-hierarchischen und agilen Ansätzen zu ziehen, hätte folglich, wenn überhaupt, nur einen analytischen Mehrwehrt und ist lediglich theoretischer Natur. Es geht beim Organisieren nicht darum, sich als Gesamtunternehmen eindeutig und einseitig zwischen klassisch-hierarchischer und agiler Organisation zu entscheiden. Gesucht sind vielmehr situations-adäquate Organisationsansätze für ein erfolgreiches Handeln im jeweiligen, spezifischen Kontext – und dieser Kontext kann innerhalb eines Unternehmens sehr unterschiedlich sein.
Der scheinbare Konflikt zwischen Stabilität und Wandel bzw. Effizienz und Innovation ist ein schon lange existierendes Kernproblem jedweder Organisationsgestaltung. Die Diskussion um die dynamische Balance aus Stabilität und Wandel hat eine lange Historie und wird aktuell mit dem Fokus auf agile Ansätze erneut befeuert. Etliche Autoren