»Wer hat die Leiche gemeldet?«, wollte der Köstlbacher wissen, während er dem Kollegen Baldauf auf dem Weg zum schwarzen Dienstaudi hinterherhechelte, den das Team in aller Regel nahm, wenn es galt, möglichst schnell zu einem Einsatzort zu kommen.
»Wenn ich richtig verstanden habe, dann hat ein gewisser Carlo Müller einen Notruf abgesetzt, weil sein Hund beim Gassi gehen eine Leiche gefunden hat.«
Kapitel 2
Einige Stunden zuvor. Es war noch stockfinster.
Eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt, mit einem dem Outfit angepassten schwarzen Mundund Nasenschutz nicht eindeutig als Mann oder Frau identifizierbar, verschmolz selbst für den aufmerksamen Beobachter mit einem der Bäume gegenüber des Anwesens SEIDENPLANTAGE ›Auf der Winzerer Höhe 15‹.
Die Morgendämmerung hatte endlich eingesetzt. Trotz des wolkenverhangenen Himmels und der Nebelschwaden, die sich von der Donau bis hoch hinauf auf die ›Winzerer Höhen‹ schoben, wurde die Sicht zusehends besser.
Die ›Winzerer Höhen‹ am Nordufer der Donau sind der Ausgangspunkt mancher Wanderrouten, die oft beim ›Krematorium‹ starten und erst einmal entlang der Straße ›Auf den Winzerer Höhen‹ verlaufen. Während ein Großteil der Wanderer bei schlechtem Wetter den geplanten Ausflug zu Fuß gerne auf einen Tag mit Sonne und guter Sicht auf Regensburg verlegt, lassen sich eingefleischte Jogger von Regen, Nebel oder gar Schnee kaum aufhalten. Sie ziehen ihr Sportprogramm durch, egal wie gut oder schlecht der Wettergott es mit ihnen meint.
So auch die junge Frau, die ihren Mini wie immer auf dem Parkplatz vor dem ›Krematorium‹ abgestellt hatte, um von dort aus ihre geplante, knapp zweistündige Runde zu beginnen. Vor dem ›Krematorium‹, dem sich der ›Städtische Friedhof Dreifaltigkeitsberg‹ anschließt, ist trotz der vielen Parkplätze nicht immer eine freie Lücke zu finden. Vor allem, wenn eine Beerdigung ansteht. Aber morgens um diese Zeit findet nie eine Beerdigung statt, und selbst für die üblichen Friedhofbesucher öffnen sich die Tore erst um 7:00 Uhr. Es wäre selbstverständlich auch jederzeit möglich, weiter oben am Rande der Straße ›Auf den Winzerer Höhen‹ zu parken. Aber gerade diese erste etwas steilere Wegstrecke macht den Reiz. Der Kreislauf kommt in Schwung und man fühlt sich, oben angekommen, frei und fit für das weitere Laufpensum.
Die dunkle Gestalt duckte sich noch etwas tiefer ins Dunkel hinter einen Baum, sobald die Joggerin in Sichtweite auftauchte. Leichtfüßig kam sie näher. Drei Schritte einatmen, drei Schritte ausatmen. Die Morgenkühle machte die ausgeatmete Luft in Form kleiner Dampfwölkchen sichtbar. Tritt, Tritt, Tritt einatmen. Tritt, Tritt, Tritt ausatmen. Völlig mechanisch. Die Technik des Joggens war für sie nichts, was sie auch nur im Ansatz bewusst tat. Routine bestimmte das Training. Während ihr Körper automatisch ein Programm abspulte, hing sie ihren eigenen, ganz persönlichen Gedanken nach.
Sie genoss diesen Nebeneffekt, den ihr das Laufen brachte. Während ihre Physis an Fitness auf dieser Route, von der sie nur in Ausnahmefällen abwich, zunahm, ging ihr Geist auf Reisen. Nicht etwa in ferne Länder, ans Meer, ins Gebirge oder in eine der schönen Metropolen dieser Erde. In Zeiten von Corona waren das ohnehin nur Illusionen, die zumindest momentan keinen hohen Stellenwert mehr hatten. Die junge Frau war Realistin und hasste es, sich mit der Frage ›Was wäre, wenn?‹ auseinanderzusetzen. Schon dreimal nicht im Zusammenhang mit Corona. Anders im konkreten, alltäglichen Leben. Dort schien es ihr durchaus interessant, Vermutungen anzustellen, was zum Beispiel passiert wäre, wenn sie gestern dem attraktiven Mann, der in letzter Zeit schon öfter auf Abstand neben ihr im Hörsaal gesessen hatte, keinen Korb gegeben hätte und seiner Einladung auf einen Kaffee gefolgt wäre. Diese Fantasie vertiefen konnte und wollte sie allerdings nicht. Sie hatte bereits eine Affäre. Eine weitere würde sie vom Studium dann doch zu sehr ablenken. Auch wenn sich einige ihrer Kommilitoninnen diesen Luxus durchaus gönnten.
Als junger Mensch macht man sich noch keine Gedanken darüber, wie das letzte Stündchen wohl dereinst aussehen könnte. Halbwegs realistisch vorstellen kann man sich vielleicht einen Unfalltod, weil diese Todesart bei jungen Menschen kaum weniger häufig vorkommt als bei solchen, die schon ein langes und erfülltes Leben hinter sich haben. Einen Unfalltod verbindet man mit Schnelligkeit. Es macht einen Rums, und das Licht geht aus.
Dass ein Messer, das einem ins Herz fährt, auch kaum mehr als einen Rums macht, bevor das Licht ausgeht, daran zumindest hatte die Joggerin nicht in ihren surrealsten Träumen gedacht, obgleich sie Thriller mochte und Szenarien dieser Art schon oft genug gelesen oder in Filmen gesehen hatte. Aber etwas lesen, am Bildschirm oder im Kino sehen oder es am eigenen Leib verspüren, das ist eben grundlegend verschieden.
***
Während an sonnigen Wochenenden Hunderte von Spaziergängern an den beiden Toren zur SEIDENPLANTAGE, vor allem dem zum Haupteingang hin, gaffend stehenbleiben, beeindruckt von der Schönheit des Gebäudes, das viele noch aus ihrer Jugend als den ›Handerer‹ kennen, wo man sich am Samstagabend zum Tanzen traf, war die Straße heute gähnend leer. Noch parkte kein einziges Auto auf dem seitlichen Parkstreifen, auch keines des Personenkreises, der in der SEIDENPLANTAGE bald seiner Arbeit nachgehen würde.
So fiel auch bisher niemandem das blutige Messer in der Einfahrt hinter dem Haupttor auf. Da es etwas seitlich lag, sollte es noch Stunden dauern, bis es entdeckt wurde.
Kapitel 3
Als der Köstlbacher mit seinem Kollegen Baldauf auf Höhe des Friedhofs am Dreifaltigkeitsberg links abbog, sahen sie schon weiter oben vor der SEIDENPLANTAGE zwei Streifenfahrzeuge mit laufendem Blaulicht stehen. Da es immer noch nebelverhangen war, erzeugten die Blaulichter eine gespenstische Atmosphäre. Ein Beamter wollte gerade ansetzen, den dunklen Audi zu stoppen, – sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten hatte man die Zufahrten zur SEIDENPLANTAGE abgesperrt – gab den Weg aber schnell frei, als er den Köstlbacher erkannte. »Sie werden erwartet!«, nickte er den beiden Kriminalern zu.
Es ist nicht etwa so, dass in der viertgrößten Stadt Bayerns jeder Polizist den Polizeihauptkommissar Edmund Köstlbacher persönlich kennt. Seiner inzwischen unbestritten regionalen Berühmtheit, die er nicht zuletzt der Mittelbayerischen Zeitung, dem lokalen Fernsehsender TVA und hin und wieder sogar dem BR zu verdanken hat, ist es jedoch geschuldet, dass zumindest innerhalb der Polizei diesem Hauptkommissar ein Ruf voraneilt, gemäß dem ihm jeder Kollege respektvoll begegnet.
Fast zeitgleich mit dem Köstlbacher kam auch der Leiter der Spurensicherung Kommissar Bernd Jung in Begleitung seines Teams am Tatort an. Der Köstlbacher nickte ihm zu und sagte irgendetwas, das wegen seines Mundund Gesichtsschutzes aber kaum zu verstehen war. Ein großer Nachteil dieser Maskenpflicht. Wer da nicht laut und deutlich artikuliert, der kann seinen Mund gleich zulassen. In dem Falle war das allerdings weiter nicht von Bedeutung, weil das Begrüßungsritual an einem Leichenfundort immer das gleiche war.
Einer der Beamten, die schon vor Ort waren, deutete zur Böschung am Rande des Parkstreifens gegenüber der SEIDENPLANTAGE:
»Eine weibliche Leiche! Sieht nach einer Joggerin aus! Ein gewisser Herr Müller, beziehungsweise sein Hund, hat sie beim morgendlichen Gassi gehen gefunden.«
Der Köstlbacher, sein Kollege Baldauf und das Spusi-Team nahmen die Leiche in Augenschein. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei eine Joggerin gestürzt und auf dem Bauch liegend nicht mehr hochgekommen. Ihr Gesicht, von dem nur eine Hälfte zu sehen war, drückte keine Schmerzen aus. Eher Überraschung. Die Augen, beziehungsweise das Auge, das zu sehen war, stand weit offen. Dass sie von einem Auto angefahren worden war, konnte man weitgehendst ausschließen. Dazu lag sie zu weit von der Fahrbahn entfernt. Ein blutiges Rinnsal hatte sich von ihr weg auf dem abschüssigen Parkstreifen gebildet, das nach kaum mehr als einem Meter in einem Schlagloch versickerte.
Voreilige Mutmaßungen sind in so einer Situation wenig hilfreich.