11 | Yoga Nidra |
Yoga Nidra hat seine Wurzeln in der Yoga- und Tantra-Tradition (Sanskrit: tan ‚sich ausdehnen’). In den 50er Jahren wurde es von Swami Shivananda und anderen Yoga-Schulen in den Westen gebracht. Yoga Nidra hinterfragt die Natur unserer Vorstellungen, die unsere Identität ausmachen, unsere scheinbar feste Denkstruktur, die es uns ermöglicht, uns als eigenständige und von anderen getrennte Wesen wahrzunehmen. Der Körper wird zuerst in Körperempfinden, Gefühle, Denken und Ich-Bewusstsein aufgeteilt. Im Anschluss daran wird die Ich-Wahrnehmung eingebettet in das Erspüren der gesamten kosmischen Energie.
Die Frage ‚Wer bin ich?’ ist eine Grundfrage in den unterschiedlichen mystischen Traditionen. Der Zen-Meister Hakuin (1686–1732) sieht die Grundessenz der Meditationsübung in der Auflösung vier elementarer Fragen:
Erste Frage: ‚Wer bin ich?’. Dabei soll auf das ‚Wer’ ein- und ausgeatmet werden.
Zweite Frage: ‚Wenn der Vogel singt und sein Gesang in meinem Ohr widerhallt, wo ist mein Ich in diesem Augenblick?
Dritte Frage: ‚Wer ist der, der all das erfährt, was mit ihm/ihr geschieht?’ Diese Frage soll dazu führen, sich aus der Beobachterperspektive zu sehen und Bilder, Gedanken und Gefühle als erscheinende und wieder vergehende eigenständige Einheiten zu erkennen.
Vierte Frage: ‚Wer geht denn da, wer redet, wer isst, wer meditiert?’75 Mithilfe dieser Fragen versucht Hakuin schrittweise über die Begrenztheit des Ichs hinauszukommen. Mit der Distanz zu Freude und Leid, wie es Sri Nishargadatta Maharaj ausdrückt, wird es dem Ich möglich, zu erkennen, wie „in dem Ozean von reinem Gewahrsein, auf der Oberfläche des universellen Bewusstseins, die zahllosen Wellen der phänomenalen Welt erscheinen und vergehen, ohne Anfang und ohne Ende. Auf der Ebene von Bewusstsein bin ich all diese Wellen. Auf der Ebene von Geschehnissen gehören sie alle mir. Eine geheimnisvolle Kraft kümmert sich um sie. Diese Kraft ist Gewahrsein, Selbst, Leben, Gott, wie immer Sie es nennen wollen. Sie ist das Fundament, die absolute Basis von allem, was ist, so wie Gold die Basis für jeglichen Goldschmuck ist, und sie ist uns so vollkommen vertraut! Abstrahieren Sie den Namen, die Form des Schmuckstückes, und das Gold wird offensichtlich. Befreien Sie sich von Namen und Formen und den Wünschen und Ängsten, die aus ihnen entstehen, was bleibt dann übrig? … Die Leere bleibt. Doch diese Leere ist voll bis zum Rand. Sie ist das immerwährende Potential, so wie das Bewusstsein die immerwährende Ausdrucksform dieses Potentials ist.“76
Zentrales Element der Yoga-Nidra-Übung ist es, sich durch wiederholte Übung von Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken durch deren neutrale Betrachtung aus der Vogelperspektive zu distanzieren. Von der Vogelperspektive aus soll der Raum grenzenlosen Gewahrseins erspürt werden, in dem das Ich alles ist, was ist, frei von der Verhaftung an ein Ego oder Ich-Bewusstsein. Dies soll allmählich zu einer Ent-Identifikation, zur Lösung der Verhaftung an ein von allem abgetrenntes Ich führen, zur Möglichkeit, im Raum des reinen Gewahrseins zu ruhen.
Übung: Yoga-Nidra-Visualisierung
Sie können sich diesen Text vorlesen lassen oder ihn mit einem Rekorder selbst aufnehmen und dann zuhören, um sich besser auf die Visualisierung einlassen zu können. Diese Übung können Sie vor dem Einschlafen, aber auch zu jeder anderen Tageszeit durchführen und auch als Anleitung für Gruppen verwenden.
• Setzen Sie sich dazu bequem in einen Sessel oder aufrecht auf ein Sitzbänkchen, ein Kissen oder einen Stuhl, Sie können sich aber auch auf den Rücken legen. Die Füße stehen bzw. liegen locker nebeneinander. Nehmen Sie Armschmuck und Brille ab. Legen Sie Ihre Hände so, wie es Ihnen richtig erscheint. Der Kopf sollte eine angenehme Lage haben. Stellen Sie sich nun darauf ein, dass Sie sich entspannen.
• Atmen Sie zunächst einige Male ruhig ein und aus. Beobachten Sie dabei, wie sich die Bauchdecke hebt und senkt. Vielleicht können Sie auch spüren, wie die Luft kühl durch die Nase einströmt und – vom Körper etwas erwärmt – wieder ausströmt: Ich bin ruhig und entspannt, ES atmet mich …
• Schließen Sie Ihre Augen. Gehen Sie zunächst in Gedanken durch Ihren Körper und versuchen Sie, noch angespannte Muskeln etwas zu lockern und zu entspannen …
• Lassen Sie Gedanken und Gefühle einfach vorbeiziehen. Vielleicht fühlen Sie sich hilflos, schmerzgeplagt, einsam, traurig, wütend, ängstlich, vielleicht gelöst und friedlich.
• Fragen Sie sich: Was ist das für ein Ich, das mich ausmacht und meinen Körper mit Bewusstsein füllt? Wer bin ich? Wie ändert sich mein Ich-Gefühl, wenn Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken aufsteigen?
• Versuchen Sie den Raum zu spüren, in den Sie eingebettet sind. Sie sind Teil einer unveränderlichen Wirklichkeit, die sich in Ihnen und um Sie herum offenbart und es Ihnen ermöglicht hat, bewusst zu erfahren, dass Bewusstsein mehr ist als Ich-Wahrnehmung.
• Versuchen Sie einen Eindruck davon entstehen zu lassen, dass Sie zeitlose Gegenwart sind, in der Erscheinungen kommen und gehen.
• Achten Sie noch einmal auf Ihren Körper. Sind Sie entspannt?
• Sagen Sie zu sich: ‚Ich bin wach, allem gewahr und heiße alle Wahrnehmungen willkommen, die in mir aus meinem Urgrund aufsteigen und mich dahin zurückbringen. … Ich bin wach, allem gewahr und heiße alles, was da ist, willkommen.’
• Wenn Sie wollen, sprechen Sie ein Gebet oder eine Art Selbstaffirmation, zum Beispiel die christliche Affirmation ‚Dein Wille geschehe’ oder ‚Ich vertraue, öffne mich und ich lasse geschehen’, bevor Sie jetzt die einzelnen Schritte durchgehen.
1. Der physische Körper (annamaya kosha)
• Wir betrachten zuerst den physischen Körper. … Nehmen Sie Ihre Körperempfindungen wahr … Nehmen Sie Ihre Körperempfindungen wahr, die an die Oberfläche Ihres Bewusstseins treten. Erlauben Sie allen Körperempfindungen da zu sein, egal ob heiß, kalt, leicht, schwer, bequem, unbequem, schmerzhaft oder angenehm … versuchen Sie, alles einfach wahrzunehmen, ohne jede Wertung … prüfen Sie, ob sich die Körperempfindungen auf der einen Körperseite anders als auf der anderen anfühlen … prüfen Sie, ob sich Ihre untere Körperhälfte anders anfühlt als die obere … wie fühlt sich Ihr Kopf im Vergleich zum Rest Ihres Körper an?
• Machen Sie sich nun Ihren ganzen Körper, wie er sitzt oder liegt, bewusst. … Machen Sie sich bewusst, dass dieser Körper aus kleinsten atomaren und subatomaren Teilchen besteht, die unaufhörlich in Bewegung sind. Elektronen jedes einzelnen Atoms umkreisen in Schallgeschwindigkeit die Kerne und lassen alles fest erscheinen. Stellen Sie sich diesen Körper als ein einziges energetisches Feld vor, das voller Energie ist, das vibriert und in alle Richtungen abstrahlt. Versuchen Sie ein Gefühl dafür entstehen zu lassen, dass Sie selbst nichts anderes als kosmisch verdichtete Energie sind …
• Versuchen Sie nun Ihre Aufmerksamkeit von diesem Körper weg in den ganzen Raum auszudehnen. … Nehmen Sie sich als einen grenzenlosen Raum des Gewahrseins wahr, in dem all diese Körperempfindungen auftauchen und wieder verschwinden.
2. Der Energiekörper (pranomaya kosha): Achtsamkeit auf Atmung und Energie
• Wir kommen nun zur Atmung. … Achten Sie auf die Atmung, auf das Aus- und Einströmen der Luft und der Lebenskraft, die dadurch in Ihnen belebt wird. … Achten Sie nun auf die Stille zwischen den Atemzügen, vor allem auf die Pause nach dem Ausatmen. … Wie fühlt sich das Atmen an: schwer, leicht … oberflächlich, tief? … Wie fühlt sich Ihr Brustkorb an: eng, weit? … Gibt es einen Unterschied zwischen der linken und der rechten Lungenhälfte? … Wie weit aus Ihrem Körper hinaus nehmen Sie das Energiefeld um Ihre Lungen wahr? … Sind beide Felder gleich oder unterschiedlich groß? … Können Sie dem Atemstrom durch die Bronchien bis tief in die Lungen folgen? … Fühlt sich der Atemstrom fließend oder stockend an? … Neutral, angenehm, unangenehm? … Haben Sie den Eindruck, nicht genug Luft zu bekommen, oder dass noch mehr einströmen könnte? … Machen Sie sich bewusst,