Lesch: Die erste Frage ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich kann jetzt förmlich spüren, was bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, im Gehirn abläuft. Der Homo sapiens kann gar nicht anders, er muss diese Frage stellen. Wenn ich jetzt behaupte: „Es hat den Urknall gegeben!“, dann stellen Sie sofort die Frage, eine der wichtigsten Fragen: „Und was war vor dem Urknall?“ Habe ich nicht recht?
Gaßner: Aber damit ist noch lange nicht Schluss, weitere bohrende Fragen kommen unweigerlich auf: Wie kann überhaupt irgendetwas aus dem Nichts entstehen, geschweige denn das gesamte Universum, das wir heute beobachten? Woher kommt die notwendige Energie? Wird das Weltall ewig expandieren oder irgendwann wieder zusammenstürzen? Und last but not least: Wie konnten sich Atome selbst organisieren zu lebenden Organismen?
Lesch: Fragen über Fragen, denen man sich als theoretischer Astrophysiker im Freundes- und Bekanntenkreis zu fortgeschrittener Stunde bei einem Glas Rotwein ausgesetzt sieht. Dann gilt es, Antworten zu finden – allgemein verständlich, ohne wissenschaftlichen Habitus, also ohne dass man sich jetzt so aufführt wie ein Wissenschaftler, also – ganz Mensch eben.
Gaßner: Es sollte aber bitteschön nur soweit vereinfacht sein, dass es wissenschaftlich korrekt bleibt.
Lesch: Das fordert beide Seiten und ist übrigens auch für beide Seiten lehrreich. Bei dem Versuch, die Zusammenhänge für andere klar und anschaulich zu formulieren, stellt sich bei mir oft selbst ein verändertes Verständnis ein.
Gaßner: Bevor wir zwei aber jetzt loslegen und das aktuelle Modell der Kosmologie ausbreiten, gilt es noch eine übergeordnete Frage zu beantworten: Woher wissen wir das alles eigentlich? Wie können wir uns so sicher sein mit dem heißen Urknall? Schließlich war doch niemand dabei. Dafür begeben wir uns weit zurück ins 20. Jahrhundert, dahin, wo alles seinen Anfang nahm.
Lesch: Damals, in den Goldenen Zwanziger Jahren, da konnte es schon mal vorkommen, dass aus einem Boxer und Rechtsanwalt ein Kämpfer für die Naturgesetze wurde.
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Woher wissen wir das Alles?
Auf den Schultern von Riesen
Gaßner: Es sollte einer jener wenigen, denkwürdigen Tage werden, an denen ein Weltbild zu Fall kommt. Ironischerweise war es ein ehemaliger Preisboxer, der den entscheidenden k.o.-Schlag versetzte.
Edwin Hubble hatte über Jahre hinweg eine besondere Klasse der Riesensterne beobachtet, die sogenannten Cepheiden. Sie verändern ihre enorme Helligkeit streng periodisch – typischerweise innerhalb von wenigen Tagen –, wodurch Hubble sie über Millionen von Lichtjahren hinweg bis ins Innere unserer Nachbargalaxien aufspüren konnte. Mit Hilfe der zugrunde liegenden Theorie dieser veränderlichen Leuchtkraft gelang es ihm, Entfernung und Geschwindigkeit dieser Objekte in einem Diagramm zusammenzutragen.
1.4 Edwin Powell Hubble (1898 - 1953)
Lesch: Langsam, langsam! Warum hat Hubble sehr leuchtstarke Objekte ausgewählt? Weil die über weite Entfernungen beobachtbar sind. Die Cepheiden sind sehr hell und weisen zusätzlich eine weitere äußerst nützliche Eigenschaft auf: Ihre Leuchtkraft lässt sich theoretisch berechnen.
Gaßner: Und die passende Theorie verdanken wir Henrietta Leavitt.
Lesch: Ja! Endlich taucht auch mal eine Frau auf. Übrigens, die Bibel war in dieser Hinsicht schneller.
Gaßner: Dort liest sich die Schöpfungsgeschichte „Urknall, Weltall und das Leben“ auch deutlich kompakter, verglichen mit dem, was wir hier erzählen. Aber nicht ablenken, Harald, jetzt wird es spannend!
Henrietta Leavitt war eine wirklich tragische Figur. Krankheitsbedingt verschlechterte sich ihr Gehörsinn bereits in jungen Jahren so sehr, dass sie ihr Berufsziel – Konzertpianistin – aufgeben musste. Während ihres Musikstudiums hatte sie im Nebenfach Astronomie belegt, weil es ideal in ihren Wochenplan gepasst hatte. Mit zunehmender Behinderung machte sie aus ihrer Not eine Tugend und verdiente ihren Lebensunterhalt am Observatorium in Harvard mit der Auswertung von Photoplatten. Ihre Akribie und Konzentrationsfähigkeit waren legendär und 1912 – tausende ausgewerteter Photoplatten später – erkannte sie eine Beziehung zwischen der Periodizität, mit der Cepheiden strahlen, und ihrer absoluten Leuchtkraft. Benannt sind sie übrigens nach Delta-Cephei im Sternbild Cepheus, dem ersten beobachteten veränderlichen Riesenstern.
1.5 Henrietta Swan Leavitt (1868 - 1921)
Lesch: Hubble wusste also, wie stark diese Sterne dort strahlen, wo sie sich befinden. Das hat er verglichen mit der Strahlung, die bei uns ankommt. Aus diesem Verhältnis konnte er die Entfernung bestimmen.
Gaßner: Das Prinzip kennt jeder vom Lagerfeuer. Je weiter man vom Feuer weggeht, umso weniger Wärmestrahlung trifft auf den Körper. Näher am Feuer wird es einem wärmer.
Lesch: In doppelter Entfernung bekomme ich nur noch 1/4 der Strahlung ab. In dreifacher Entfernung 1/9. Die Intensität fällt mit dem Quadrat des Abstands. Daraus lässt sich die Entfernung berechnen
1.6 Die scheinbare Leuchtkraft nimmt mit dem Quadrat der Entfernung ab. Dargestellt an vier identischen Kerzen in unterschiedlichem Abstand.
1.7 Der Intensitätsverlauf einer Lichtquelle. Misst man beispielsweise in einem Abstand r die Anzahl der Photonen, die pro Sekunde auf eine Leinwand der Größe A fallen, so ist für dieselbe Anzahl im doppelten Abstand die vierfache und in dreifachem Abstand die neunfache Fläche nötig.
Gaßner: Vorausgesetzt wir wissen, wie stark die Strahlung direkt am Lagerfeuer beziehungsweise unmittelbar an der Sternenoberfläche ist. Henrietta Leavitt gelang der Durchbruch. Mit der Berechnung der Cepheiden-Leuchtkraft standen standardisierte Leuchtfeuer in bis zu zehn Millionen Lichtjahren Entfernung zur Verfügung. Bevor sie ihre Theorie entwickelt hatte, waren Entfernungsmessungen auf hundert Lichtjahre begrenzt. Damals war man sich nicht einmal sicher, ob die Magellanschen Wolken oder die Andromeda-Galaxie zur Milchstraße zählen oder nicht.
Lesch: Leavitt hatte eigens ein neues Messverfahren entwickelt, das leider nicht nach ihr benannt wurde, sondern die Bezeichnung Harvard-Standard erhielt. Frauen hatten Anfang des letzten Jahrhunderts noch einen sehr schweren Stand in der Wissenschaft.
Gaßner: Erst Jahre später wollte das Nobelpreis-Komitee ihre bahnbrechenden Leistungen würdigen; am Ende hatte sie mehr als 2.400 veränderliche Sterne entdeckt und vier Supernovae beobachtet. Allerdings war Henrietta Leavitt bereits vier Jahre vor ihrer geplanten Nominierung im Alter von 53 Jahren an Krebs verstorben und posthum wird die Auszeichnung bekanntlich nicht verliehen. Wie gesagt, sie war in jeder Hinsicht eine wahrlich tragische Figur. Angesichts der strahlenden Entdecker in der Naturwissenschaft vergisst man nur zu leicht die vielen Einzelschicksale im Hintergrund.
Lesch: Apropos strahlender Entdecker – damit wären wir wieder bei Edwin Hubble. Der hat zusätzlich zur Entfernung auch die Fluchtgeschwindigkeit der Objekte bestimmt. Dafür müssen wir einen Blick in die Waschküche der Spektralanalyse werfen. Die Atome der verschiedenen chemischen Elemente geben Strahlung in ganz gewissen Portionen ab, die durch die Energieniveaus in der Elektronenhülle genau definiert sind. Diese Spektrallinien sind gewissermaßen ihr Fingerabdruck, der sich für jede Atomsorte im irdischen Labor messen lässt.
1.8 Die Emissionslinien von Wasserstoff und Helium als charakteristische Fingerabdrücke.