Als Mike sich dem kleinen Landhaus näherte, sah er, dass es in Kobaltblau gehalten war, und dass es von innen heraus sanft leuchtete. Er bog ab, und während er auf die Tür zuging, entdeckte er ein kleines Schild mit der Aufschrift »HAUS DER KARTEN«. Genau danach hatte er doch gefragt! Er schien der Sache also näher zu kommen. Vielleicht würde die weitere Reise nicht so voller Ungewissheit sein. Eine aktuelle Landkarte wäre eine wertvolle Hilfe in diesem fremden Land.
Plötzlich öffnete sich die Haustür und heraus spazierte ein wunderschönes, großes, blaues Wesen, dessen Farbe doch wahrhaftig zu der des Hauses passte! Offenkundig war es ein Engelwesen, denn wie auch der erste Engel in der Vision, war es überlebensgroß – größer als ein Mensch. Seine Gegenwart erfüllte die Atmosphäre mit etwas Gewaltigem und einem Hauch von Blütenduft. Auch diesmal konnte Michael den Duft der Wesenheit tatsächlich riechen! Der große Blaue schaute ihn an.
»Sei gegrüßt, Michael Thomas von reiner Absicht! Wir haben dich schon erwartet.«
Anders als bei dem Engel in der Vision, war das Gesicht dieses Engels deutlich erkennbar und Mike bemerkte, dass es Wohlbefinden und Heiterkeit ausdrückte, unabhängig von dem, was die Wesenheit sagte. Mike war froh, Gesellschaft zu haben und verhielt sich respektvoll. Er grüßte den Engel.
»Guten Abend, du großer Blauer!« Michael schluckte sofort. Was, wenn der Engel nicht »Blauer« genannt werden wollte? Was, wenn seine Farbe nur für menschliche Augen blau erschien und er in Wirklichkeit gar nicht blau war? Vielleicht mag er blau nicht einmal! Mike seufzte über die vielen Skrupel, die durch seinen Kopf gingen.
»Ich bin für alle Wesen blau, Michael Thomas von reiner Absicht«, ließ sich der Engel vernehmen, »und ich freue mich über deinen Gruß. Bitte komm ins Haus der Karten und richte dich darauf ein, die Nacht hier zu verbringen.«
Diesmal war Mike froh darüber, dass ein Engel seine Gedanken gelesen hatte – oder wie hatte es der erste Engel noch ausgedrückt? Dass er sie fühlen konnte? Wie dem auch sei, Mike war erleichtert, dass er den Vorstand des ersten Hauses nicht beleidigt hatte.
Mike und der blaue Engel, zwei äußerlich unähnliche Wesen, drehten sich zur Tür und betraten das blaue Haus. Im selben Augenblick, da sich die Tür hinter ihnen schloss, spähten zwei durchdringende, riesige, knallrote Augen wütend aus dem großen Gebüsch links vom Hauseingang. Sie waren wachsam. Sie kannten keine Müdigkeit. Sie waren schweigsam und unendlich geduldig. Sie würden sich weder bewegen noch zwinkern – bis sie sähen, dass Michael Thomas sich anschickte, weiterzuziehen.
Mike trat ein und war überrascht, über den Anblick, der sich ihm bot. Das Innere des Gebäudes war riesig! Es schien sich endlos auszudehnen, während es äußerlich einfach und bescheiden gewirkt hatte. Er erinnerte sich, dass der erste Engel gesagte hatte, nicht alles sei immer so, wie es scheine; was offenbar auch auf seine seltsame neue Wahrnehmung zutraf. Mike machte sich Gedanken über diese neue Art, die Dinge zu sehen. Hatte sie eine tiefere Bedeutung?
Er wanderte hinter dem Engel durch die weiten Räume im Haus der Karten. Es war eingerichtet wie eine klassische Bibliothek, ähnlich den berühmten Bibliotheken in Europa, wo bedeutende historische Bücher aller Art aufbewahrt wurden. Statt der Bücherregale gab es hier jedoch Tausende kleiner, runder Öffnungen in den Wänden, jede bestückt mit – so schien es Mike – einer Schriftrolle. Die Wände dehnten sich endlos nach oben aus und die Öffnungen befanden sich – mehrere Stockwerke hoch – auf beiden Seiten der Hallen, die sie betraten. Mike konnte die kleinen Vertiefungen noch nicht aus der Nähe sehen, vermutete aber, dass sich, wie der Name des Hauses schon andeutete, Karten darin befanden. Doch warum so viele? Der Gang durch die riesigen Räume schien ohne Ende und nirgends war ein anderes lebendes Wesen zu sehen.
»Sind wir allein?«, fragte Mike. Der Engel drehte sich um und lachte in sich hinein.
»Je nachdem, was du unter allein verstehst. Du schaust auf die Verträge aller auf diesem Planeten lebenden Menschen.« Gelassen schritt er weiter.
Mike blieb stehen und starrte auf die Wände, fassungslos über das, was die blaue Wesenheit gerade gesagt hatte. Der Engel ging ohne Michael weiter und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. Als er gewahr wurde, dass niemand hinter ihm war, blieb er stehen, wandte sich um und wartete geduldig auf Mike. Er sagte nichts.
Mike sah die Leitern an den hohen Wänden und die vielstöckig übereinander gereihten hölzernen Vertiefungen, die Schriftrolle um Schriftrolle enthielten. Verträge hatte der Engel sie genannt. Was mochte das bedeuten?
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr!«, rief Mike, als er den Engel eingeholt hatte.
»Noch bevor deine Reise zu Ende ist, wirst du es verstehen«, beruhigte ihn der Engel. »Es gibt hier nichts, wovor du Angst haben brauchst, Michael. Alles ist, wie es sein soll; wir haben auf deinen Besuch gewartet und achten deine Entscheidung. Deine Absicht ist rein – wir alle können das sehen. Entspanne dich und genieße es, von uns geliebt zu werden.«
Blaus Worte berührten Mike im Innersten. Etwas Schöneres hätte ihm kein Wesen im Universum sagen können. Wurde er empfindsamer? Der frühere Engel war ebenso liebevoll zu ihm gewesen, doch er merkte, dass es ihn jetzt viel stärker berührte als damals.
»Ist es nicht ein wundervolles Gefühl, geliebt zu werden, Michael?« Der blaue Engel hatte sich wieder an Mikes Seite begeben und überragte ihn beträchtlich.
»Was ist das bloß für ein Gefühl?«, fragte Mike leise. »Mir kommen fast die Tränen.«
»Du wechselt in eine andere Schwingung, Michael.«
»Ich weiß gar nicht, was das bedeutet. Äh ... hast du einen Namen, Sir?« Michael fragte sich wieder, ob er die Wesenheit beleidigt hatte. Wenn sie nun ein weiblicher Engel war? Mike kannte sich mit solchen Dingen nicht aus, doch das Benehmen und die Erscheinung des Engels konnten durchaus als weiblich gelten.
»Nenn mich einfach Blau«, sagte der Engel und zwinkerte Mike zu. »Ich bin geschlechtslos; doch meine Größe und Stimme signalisieren dir, dass ich ein männliches Wesen bin. Rede mich als einen ER an. Das ist o.k.« Der Engel machte eine Pause, damit Mike Zeit hatte, es zu verdauen. Dann fuhr er fort: »Deine menschliche Zellstruktur kann in vielen Schwingungsfrequenzen existieren, Michael. Deine gewohnte könnten wir als Frequenz Nummer eins bezeichnen. Sie ist dir vertraut und hat dir gute Dienste geleistet. Auf dieser Reise jedoch ist es nötig, dass du Frequenz sechs oder sieben erreichst, um an dein Ziel zu kommen. Jetzt im Augenblick wechselst du zu Frequenz zwei – um es einmal so auszudrücken. Jede Schwingungsfrequenz bringt, wie dir schon gesagt wurde, ein größeres Bewusstsein der eigentlichen Wirklichkeit Gottes mit sich. Was du jetzt spürst, ist das Gewahrsein von Liebe. Liebe hat Dichte, Michael. Sie besitzt physikalische Eigenschaften und hat Kraft. Deine neue Schwingungsfrequenz läßt dich die Liebe stärker fühlen als je zuvor. Liebe ist die Essenz von Zuhause und sie wird stärker mit jedem Haus, das du besuchst.«
Michael liebte es, Blau zuzuhören. Seine Erklärungen gingen über die Antworten, die er bisher bekommen hatte, hinaus.
»Bist du ein Lehrer?«, fragte Mike.
»Ja. Alle Hausengel sind es, außer dem letzten. Ich habe dir Wahrheiten mitzuteilen, die Teil meines Hauses sind, und das gilt auch für die anderen. Wenn du so weit bist, wirst du einen viel größeren Überblick haben, wie die Dinge im Universum funktionieren, als jetzt. Meine Aufgabe ist, dir etwas auszuhändigen, das du dir durch deine Absichtsbekundung verdient hast. Du bist hier in meinem Haus, um die Karte deines Vertrages zu erhalten. Morgen früh zeige ich sie dir und beantworte dir einige Fragen, bevor du dich wieder auf den Weg machst. Es ist wichtig, dass dieses Haus das erste ist, denn das wird dir bei deiner Reise helfen. Und nun möchte ich dich bitten, unsere Geschenke der Nahrung und Ruhe zu genießen.«
Wieder ging Mike hinter Blau her, der ihm mehr und mehr wie ein vertrauter Freund vorkam – allerdings ein sehr blauer. Er wurde in einen wunderschönen Innengarten geführt, wo alle erdenklichen Früchte und Gemüse in sorgfältig angelegten Reihen wuchsen. Wie in den übrigen Räumen, so strömte auch hier das Licht durch die Dachluken herein. Es erfüllte alle Innenbereiche