6 Nachdem – und wirklich erst nachdem – die Gefühle des anderen zugestanden, anerkannt und voll und ganz gefühlt wurden, können Sie dieser Person helfen, mit ihren Reaktionen auf ihre Gefühle umzugehen. Jetzt können Sie auch neue Möglichkeiten vorschlagen, wie man die Situation betrachten könnte, um so eventuell bessere Gefühle zu erzeugen. Jetzt können Sie auch Ratschläge anbieten.
Was soll denn das ganze Drama?
Drama bedeutet ursprünglich »Handlung« und wird hauptsächlich in der Welt der darstellenden Künste und des Theaters verwendet. In Bezug auf unser Gefühlsleben sprechen wir jedoch auch oft von Drama, wenn es um Zustände, Situationen oder Ereignisse bzw. Abfolgen von Ereignissen geht, die mit einem intensiven Konflikt verbunden sind.
Man bringe beides zusammen, und schon hat man die Definition für eine dramatische Person, die agiert, als ob sie sich in einem intensiven Konflikt befände, und die wir als »Drama-Queen«, also »Drama-Königin«, oder als »Drama-König« bezeichnen. Sie wissen schon, welche Art von Leuten ich meine: Sie agieren, als ob die Dinge viel schlimmer seien, als sie Ihrer Meinung nach sind. Deshalb geht Drama mit einem Stigma einher. Oft hören wir Leute sagen: »Ich hab genug von all dem Drama«, oder: »Der ist ja süchtig nach Dramen«, oder: »Sie ist einfach eine Drama-Königin.«
Das sehe ich überhaupt nicht so und möchte das deshalb hier einmal klarstellen: Wenn es um die emotionale Erfahrung eines Menschen geht, gibt es so etwas wie Drama nicht. Indem Sie ein Urteil abgeben und finden, jemand »zieht ein Drama ab« oder sei einfach nur dramatisch drauf, werten Sie diese Person ab und beschämen sie wegen ihrer Gefühle. Doch ich versichere Ihnen: Diese Gefühle sind sehr real.
In Wirklichkeit überreagiert niemand. Die Menschen reagieren genau so, wie sie ihre jeweilige Realität empfinden. Allerdings muss auch klar sein: Unsere Wahrnehmung der Realität ist nicht dieselbe.
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind verheiratet und vergessen immer wieder mal, Ihren Ehering zu tragen; Sie haben ihn meinetwegen gedankenverloren auf dem Waschbecken liegen lassen und ihn nicht wieder angesteckt. Ihre Ehefrau regt das sehr auf; sie heult Ihnen zwanzig Minuten lang etwas vor und schreit sie an.
Sie schauen Ihre Frau an und denken vielleicht: »Mein Gott, die ist ja echt dramatisch drauf.« Immerhin lieben Sie sie ja noch, und es ist doch nur ein Ring. Sie haben nur vergessen, ihn wieder anzulegen. Ihre Sichtweise ist also: Entweder spielt Ihre Herz-allerliebste sich auf, um Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, oder sie überreagiert.
Aber jetzt wollen wir einmal kurz die Perspektive wechseln und schauen, wie Ihre Frau das sieht. Vielleicht sind Eheringe für sie ein sehr wichtiges und sichtbares Symbol der Liebe? Wenn Sie Ihren Ehering vergessen, ist ihre Realität: »Mein Mann hat mich vergessen oder liebt mich nicht mehr.« Und wer weiß, vielleicht wird dieser Gedanke durch negative Erinnerungen noch verschlimmert. Womöglich war sie schon einmal verheiratet; eines Tages kam sie nach Hause, ihr Mann war weg, und nur der Ehering lag noch auf dem Tisch, als Symbol dafür, dass alles vorbei war. Deshalb assoziiert Ihre Frau einen Ehering, der vergessen auf dem Tisch liegt, damit, verlassen zu werden.
Sie sehen also, dass sie Ihnen nur deshalb dramatisch vorkommt, weil Sie den Zusammenhang in diesem Moment nicht erkennen; Sie leben beide in verschiedenen Realitäten. Ihre Realität ist: Sie haben vergessen, ein Schmuckstück anzulegen, weil Sie geduscht haben. Die Realität Ihrer Frau dagegen sieht so aus: Sie lieben sie nicht mehr und werden sie verlassen.
Ist die Reaktion dann wirklich noch so überdramatisch? Wie Sie sehen, scheint sie vollkommen angebracht zu sein. Höchstwahrscheinlich würden Sie genauso reagieren, wenn Sie denken würden, Sie würden nicht geliebt und Ihre Frau würde Sie demnächst verlassen.
Wessen Sichtweise entspricht der Wahrheit?
Wenn wir jemanden für dramatisch halten, sagen wir oft zu dieser Person: »Sei doch vernünftig und schau mal, wie es in Wirklichkeit ist.« Doch damit sagen Sie auch, dieser Mensch sollte seine Perspektive an Ihre Perspektive anpassen. Diese andere Perspektive hilft manchmal durchaus, sich besser zu fühlen, aber das heißt nicht, dass Ihre Perspektive bzw. Ihr Verständnis der Realität richtig ist. Perspektive geht immer mit einer subjektiven Wahrheit einher.
Agiert jemand so, als wäre eine Situation schlimmer, als Sie meinen, bedeutet das wahrscheinlich, seine Situation ist schlimmer als die Situation, die Sie sich vorstellen. Oder anders ausgedrückt: Diese Person hat einer Situation eine Bedeutung zugemessen, die schmerzvoller ist als die Bedeutung, die Sie ihr zumessen.
Sie sehen also: Wir agieren vollkommen im Einklang mit der Realität, die wir wahrnehmen; wir agieren alle aus unserer persönlichen Wahrheit heraus. Wenn Sie das erst einmal erkennen und akzeptieren, wird Ihr Widerstand nachlassen und Sie können aufhören, die Gefühle des anderen kleinzumachen oder abzuwerten oder ihn für seine Gefühle zu beschämen. Dann sieht es nicht mehr nach Überreaktion aus, und Sie nehmen sein Verhalten nicht mehr so persönlich.
Sagt jemand: »Ich habe keine Lust mehr auf all das Drama in meinem Leben«, dann meint er damit meistens: »Ich habe genug von all den dramatischen Leuten in meinem Leben«, oder: »Ich habe genug von diesen ganzen zwischenmenschlichen Konflikten.« Doch bei Drama geht es nicht um die anderen, sondern um uns selbst. Ich weiß: Wenn ich mit jemandem in Konflikt bin, stehe ich mit mir selbst im Konflikt; dann führe ich gegen mich selbst Krieg. Das gilt für alle Menschen. Wenn wir von Drama umgeben sind, können wir dieses ganze Drama nicht einfach aus unserem Leben herausschneiden, weil wir selbst dieses Drama anziehen.
Und was passiert, wenn wir bestimmte Leute, die immer so dramatisch sind, aus unserem Leben heraushalten? Dann finden andere dramatisch veranlagte Menschen den Weg in unser Leben und füllen den frei gewordenen Platz aus. Das passiert so lange, bis wir erkennen, warum wir Konflikte in unser Leben ziehen. Wir ziehen unterdrückte Aspekte unserer selbst an und erzeugen damit einen Drama-Kreislauf.
Sollten Sie Drama hassen, gehören Sie wahrscheinlich zu den Menschen, die die Gefühle anderer Menschen häufig abwerten und ihnen sagen, sie seien ja so dramatisch, vermutlich weil Sie im Laufe des Lebens gelernt haben, Ihre eigenen Gefühle abzuwerten und diese Erwartungshaltung auch Ihren Mitmenschen auferlegen. Doch selbst wenn Sie sich wünschen, diese Gefühle nicht zu haben, ist es an der Zeit, sie sich einzugestehen und sich nicht mehr dafür zu schämen. Sobald Sie einem Drama gegenüber eine abwehrende Haltung einnehmen, denken Sie bitte immer daran: Niemand überreagiert, auch Sie nicht. Sie agieren immer vollkommen im Einklang mit der Realität, die Sie wahrnehmen. Sie nehmen eine bestimmte Realität so wahr, weil Sie zuvor bestimmte Erfahrungen gemacht haben – Erfahrungen, an die Sie womöglich nicht einmal mehr eine Erinnerung haben.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Und wie soll ich mit etwas umgehen, an das ich mich nicht erinnern kann? Darum geht es im nächsten Kapitel, in dem wir genauer darauf eingehen, wie unterbewusste Erinnerungen und Auslöser unser Leben sabotieren und was wir dagegen unternehmen können. Ich werde insbesondere zwei Konzepte vorstellen, die ich persönlich für sehr effektiv halte: die Arbeit mit dem inneren Kind und mit dem menschlichen Schatten.
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