Aber wir kennen alle noch eine zweite Strategie, die nicht weniger ungeschickt ist: etwas oder jemand anderes für unsere Misere verantwortlich zu machen – einen Menschen, eine Situation, das Wetter oder was sich sonst noch anbietet. Anstatt selbstverantwortlich zu sein, stehlen wir uns aus der Verantwortung.
Die dritte ungeschickte Strategie der Leidensbewältigung läuft darauf hinaus, dass wir uns von Dukkha niederdrücken und deprimieren lassen. Wir werden ganz in Dukkha hineingezogen und infolgedessen schrecklich unglücklich. Sehr viele Menschen verfallen diesem Fehler. Wenn er auch durchaus verbreitet ist, ist er deswegen doch nicht weniger töricht. Wir sind deprimiert und lassen den Kopf hängen, bis irgendein äußerer Kitzel uns aus unserer Trübsal erlöst – eine Geburtstagstorte, ein Eisbecher. Dann hebt sich unsere Laune ein wenig.
So viel zum ungeschickten Umgang mit Dukkha. Wollen wir unser Leiden auf geschickte Weise bewältigen, müssen wir es als Lernerfahrung betrachten. Die einzig wirklich vernünftige Betrachtungsweise ist die, dass wir es sehen und uns dann sagen: »So ist das also. Dies hat der Buddha mit der ersten der Vier Edlen Wahrheiten gemeint. Offensichtlich wusste er, wovon er sprach.«
Die erste Edle Wahrheit ist die Wahrheit vom Leiden, die Wahrheit von Dukkha. Die zweite Edle Wahrheit ist die der Leidensentstehung: Dukkha hat eine Ursache. Die Ursache ist Gier: der Wunsch, etwas zu bekommen, das wir nicht haben; oder etwas loszuwerden, das wir haben, aber nicht haben wollen. Das sind die einzigen beiden Ursachen. Es gibt keinen anderen Grund für Dukkha. Sobald wir Dukkha in uns erkennen, ohne uns darin zu verstricken, begreifen wir, dass Leiden eine Realität ist, ein Teil des Lebens. Und dann können wir in uns auch den Grund dafür finden. Wir sagen uns: »Stimmt genau. So und nicht anders ist es. An meinen Wünschen liegt es.« Haben wir auf diese Weise die Gültigkeit der zweiten Edlen Wahrheit festgestellt, werden wir einsehen, dass die dritte und die vierte Wahrheit ebenfalls stimmen müssen. Die dritte Edle Wahrheit ist die Wahrheit der tatsächlichen Leidensüberwindung: alles Dukkha hört auf, ein für alle Mal. Und dies ist Nibbāna – Befreiung, vollkommene Befreiung.
Die beiden ersten Wahrheiten lassen sich leicht beweisen. Das ist ein Kinderspiel. Wir können sie uns jeden Tag mindestens zehn bis fünfzehn Mal bestätigen. Dazu brauchen wir nicht mehr zu tun als aufzupassen, was passiert. Haben wir aber die Gültigkeit der ersten beiden Wahrheiten nachgewiesen, dürfen wir annehmen, dass die dritte und die vierte ebenfalls stimmen. Wir haben eine Orientierungshilfe gefunden, etwas, womit wir arbeiten können. Mit der vierten Edlen Wahrheit, dem Edlen Achtfachen Pfad, haben wir ein gutes Werkzeug dafür gefunden. Wir können in uns zu Vollkommener Anschauung, der richtigen Sicht der Dinge gelangen.
Dukkha entsteht immer und immer wieder. Das Leiden wird nicht aufhören, sich zu manifestieren, bis nicht alle Gier, alles Wünschen, alles Sehnen erloschen sind. Mit dem Erlöschen alles Wünschens aber sind wir zu Arahats geworden, vollkommen erleuchtet. Warum wundern wir uns also noch darüber, wenn wir sehen, dass Leiden entsteht? Dies sollte uns wirklich nicht überraschen. Es ist töricht, sich davon überraschen zu lassen. Wir können uns höchstens darüber wundern, wenn absolut kein Dukkha festzustellen ist. Das ist wesentlich sinnvoller: »Meine Güte, in den letzten dreißig Minuten habe ich absolut kein Dukkha gespürt!« Das wäre wirklich bemerkenswert, eine echte Überraschung. Wer sich hingegen über das Auftauchen von Dukkha überrascht zeigt, beweist damit nur, dass er weder dem Buddha richtig zugehört noch wirklich in sich selbst hineingeschaut hat.
Also müssen wir Dukkha vorbehaltlos als gegeben akzeptieren, wenn wir uns innere Harmonie erschließen wollen. Wer mit Dukkha hadert, wird sich natürlich dagegen wehren und versuchen, sein Leiden abzuschütteln. Das wird dann die dringlichste Beschäftigung in seinem Leben. Wer das tut, zäumt das Pferd von hinten auf: »Ich will endlich mein Dukkha loswerden. Also muss ich irgendetwas ändern, verbessern. Ich muss meine Mitmenschen verändern, die Situation, meinen Tagesplan, meinen Körper und so weiter.« Das ist vergebliche Liebesmüh. Es funktioniert nicht. Wir können Dukkha auf diese Weise nicht loswerden. Was wir aber aufgeben können, ist unser Wünschen. Der Buddha hat gesagt, dass dies möglich ist.
An diesem Punkt in unserem Leben müssen wir seine Worte als erwiesen hinnehmen, weil offensichtlich ein Hoffnungsschimmer besteht, dass wir zumindest einige seiner Ausführungen schon jetzt nachprüfen können, ohne dass wir dafür bereits erleuchtet oder der Erleuchtung nahe sein müssten. Da wir einen Teil nachprüfen können, müssen wir den Rest auf Treu und Glauben akzeptieren und mit unserer Praxis auf seinen Wahrheitsgehalt untersuchen.
Wenn dann, wie es so seine Art ist, das nächste Mal Leiden auftaucht, Dukkha seinen Kopf hebt und euch anschaut, akzeptiert dies, und sagt euch: »So, so. Die Dinge laufen nicht nach Wunsch.« Macht euren Wunsch, euer Sehnen ausfindig und lasst sie los. Dukkha könnt ihr nicht loslassen, nur euer Wünschen. Je mehr Wünsche wir loslassen, desto größer die Harmonie. Wünsche stören fortwährend die Harmonie. Stellt euch vor, wir chanten zusammen, und eine fängt an zu brüllen und zu kreischen, nur weil sie gern mehr gehört werden möchte als die anderen. Daran ist nichts harmonisch, kein Einklang. Oder stellt euch vor, dass irgendjemand stets eine halbe Silbe voraus sein möchte. Das würde die Harmonie vollkommen zerreißen. Wünschen zerstört alle Harmonie.
Wollen wir im Herzen innerlich zufrieden sein, müssen wir begreifen, dass diese Zufriedenheit auf emotionaler Unabhängigkeit und auf liebevollem Wohlwollen beruht, darauf, dass wir Liebe und Anerkennung schenken, anstatt sie für uns haben zu wollen, dass wir die wechselseitige Abhängigkeit von Wünschen und Leiden verstehen und unser Wünschen loslassen. Das ist der Weg. Das ist die Lehre. Ich tue nichts anderes, als euch daran zu erinnern. Ich erzähle euch nichts Neues. Wir wissen im Grunde Bescheid. Es gibt ein fundamentales inneres Wissen. Wenn wir es dann ausgesprochen hören, denken wir: »Natürlich, das ist ja so wahr.« Aber dann vergessen wir es.
Warum vergessen wir? Was bringt uns das? Alle Welt vergisst. Wozu? Das Vergessen ist Teil der fortwährenden Ich-Identifizierung und Ich-Bestätigung. Der Geist beschäftigt sich unaufhörlich mit Gedanken, die um »ich«, »mein«, »für mich«, »das gehört mir« kreisen. Alle tun wir dies, und deswegen ist die Welt voller Missklänge, ein Ort der Disharmonie. Wir müssen in unserem eigenen Herzen Harmonie finden. Nur dort können wir sie entdecken. Niemand wird sie uns schenken und uns in die Hand drücken. Aber der Buddha hat uns zumindest Hilfen gegeben. Er hat Methoden gelehrt, mit denen wir diese Harmonie verwirklichen können: die Meditation über die Allgüte (mettā bhavana); das Verhalten, das sich an solcher Liebe und Allgüte (mettā) orientiert; die acht meditativen Vertiefungen (jhāna); und die Meditation des Überweltlichen Klarblicks (vipassanā). Dies alles sind Methoden, kein Selbstzweck. Sie führen zur Durchdringung, das heißt zu vollständigem Verstehen von Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und der Nicht-Existenz eines Wesenskerns, im Allgemeinen als Selbst- bzw. Ich-losigkeit (anattā) bezeichnet.
Mit diesem Verstehen gewinnen wir Einsicht in den permanenten Wandel und Umbruch aller Erscheinungen. Wir sehen, wie schnell sich Körper und Geist verändern, wie untrennbar das Leiden zum Leben gehört, ihm gewissermaßen inhärent ist, und wir erkennen darüber hinaus die Spiele des Ich, mit denen es uns fortwährend im Wege steht. Ohne »Ich« gibt es keine Schwierigkeiten. Schwierigkeiten kann es nur geben, wenn ein »Ich« existiert, das Schwierigkeiten hat. Wo wäre ohne »Ich« noch die Schwierigkeit? Je größer das »Ich«, desto größer die Schwierigkeit; je kleiner das »Ich« desto kleiner ist auch die Schwierigkeit.
Harmonie heißt, mit anderen wirklich zusammen sein. Es heißt aber auch, mit uns selbst zusammen sein, mit uns selbst in Einklang leben. Wir erschließen uns diese Harmonie, wenn wir zu menschlicher »Ganzwerdung« finden. »Heilig« kommt von »heil«, und »heil« heißt: nicht in Teile aufgespalten, also »ganz«. »Heilig« müssen wir nicht sein, aber »ganz«: in uns vollkommen.
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